25. Juli 2024

Ihr Lieben, es liegt ja offenbar in der Natur des Menschen, sesshaft zu werden, sich ein Zuhause zu schaffen und Wurzeln zu schlagen. Andererseits nimmt die (notgedrungene wie auch frei gewählte) Mobilität ständig zu. Auch ich habe schon etliche Ortswechsel hinter mir und mich eigentlich überall heimisch gefühlt, wenn auch nie mit dem Ziel, für immer zu bleiben – auch hier nicht. Umso erfreulicher ist es doch zu spüren, wie sehr sich Tumaco trotzdem nach Zuhause anfühlt. Noch nie zuvor habe ich an einem Ort so lange gelebt und mich vielleicht auch noch nie so sehr eingelassen, mit Haut und Haar und eigentlich allem, was mich als Mensch ausmacht. So ist es hier zwar nie ein Nestbau gewesen – obwohl ich mich in meinem Holzhäuschen nach wie vor sehr wohlfühle – aber doch ein bewusstes JA zu diesem Leben an diesem besonderen Ort mit seinen vielen Menschen und allem, was dazugehört.

Mein kleiner Begleiter

Wie lange wir diesen Weg nun alle miteinander schon gehen, wird mir besonders deutlich, wenn ich mir die Entwicklung so mancher Kinder und Jugendlicher vor Augen führe. Der kleine Santiago war eines der ersten Nachbarskinder, die ich näher kennenlernte. Er hat oft stundenlang bei mir am Fußboden gesessen, gespielt oder einfach in der Hängematte geschlafen. Als er drei, vier Jahre alt war, begleitete er mich jeden Dienstag in den hinteren Teil unseres Stadtviertels, wo niemand freiwillig hinging, viele Menschen ermordet wurden und ich versuchte, eine Jugendgruppe aufzubauen. Seine Familie gab ihn mir als Schutz mit, denn mit diesem kleinen einheimischen Begleiter wirkte ich noch vertrauenswürdiger. Wir waren ein gutes Team, Santi und ich. Inzwischen ist er 14 Jahre alt, in der 10. Klasse und nimmt im CENTRO AFRO an der Firm-Katechese teil. Bis heute spricht er mich mit „tía Uli“ (dt. Tante) an, ein Ausdruck von Respekt und Zuneigung in der afrokolumbianischen Kultur, der mir sehr gefällt. Familienstatus habe ich auch für etliche andere Kinder und Jugendliche annehmen dürfen. Als am Muttertag dieses Jahres, am Ende des Gottesdienstes, alle Mütter gesegnet werden sollten, wurde auch ich von den Jugendlichen nach vorn geschoben, um den kollektiven Segen der Gemeinde zu erhalten. Das hat mich sehr berührt.

Erfahrungen im Dialog

Trotz unseres stets prall gefüllten Alltags ist es für mich derzeit auch eine Phase des Genießens. Natürlich ist das Leben hier nach wie vor sehr fordernd, und doch habe ich zunehmend das Gefühl, nicht mehr permanent die Initiative ergreifen und neue Vertrauensbeziehungen aufbauen zu müssen, sondern von dem zurückliegenden, gemeinsamen Weg auch unheimlich zu profitieren Ein ganz besonderes Geschenk war in diesem Zusammenhang die Anfrage der Universität Luzern, im Rahmen des Masterstudiengangs Theologie die Hauptvorlesung Missionswissenschaft virtuell zu übernehmen. So habe ich mein Häuschen doch noch mit einer etwas verlässlicheren Internetverbindung ausgestattet, auf kompliziertesten Wegen aktuelle Bücher und Fachzeitschriften akquiriert und deren Inhalte dann wochenlang mit meinen konkreten Erfahrungen an der Basis abgeglichen. Es war ein wunderbarer Prozess, der mehr als dreißig Studierenden während eines ganzen Semesters zugutekam, aber auch für mich selbst sehr gewinnbringend war. Vieles aus meiner Zeit in Lateinamerika durfte ich noch einmal systematisch durchbuchstabieren, Erfahrungsschätze zusammentragen, daraus eigene Überzeugungen ableiten und auch theologisch ausformulieren. Dieser Herausforderung bin ich zunächst mit großem Respekt begegnet, habe sie dann jedoch sehr genossen. Eine wunderbare Begleiterscheinung war, dass ich mir einmal mehr dessen bewusst geworden bin, was ich mir für meine Zukunft (nach Tumaco) gar nicht vorstellen kann und was ich mir unbedingt wünsche. So hat mich der Dialog mit den Studierenden in der Schweiz in dieser Phase des langsamen Abschiednehmens vom CENTRO AFRO sehr bestärkt und mir nicht zuletzt auch gute Argumente dafür geliefert, dass so ein Einsatz im richtigen Moment zu Ende gehen muss. Natürlich macht uns die Erfahrung und auch eine gewisse Routine in einem ganz konkreten Kontext souveräner und kompetenter, aber mit der Zeit vielleicht auch einfallsloser. Irgendwann glaubt man, schon alles zu kennen und zu wissen und ausprobiert zu haben. Das macht uns schlimmstenfalls selbstgerecht und verschlossen gegenüber neuen Ideen. Außerdem passt man sich zwangsläufig mit den Jahren dem Umfeld an und normalisiert so manches, was vielleicht durchaus noch einer Transformation bedürfte. Dadurch reduziert sich das Potenzial der sog. konstruktiven Fremdheit, also dieses neugierigen, frischen Blicks einer „Fremden“, die sicherlich Vieles zunächst nicht erfassen kann, weil ihr die nötigen Hintergrundinformationen fehlen, die aber vielleicht gerade deshalb auch belebende Fragen zu stellen und Verkrustetes aufzubrechen vermag. – Ihr seht, ich versuche, mich selbst recht erfolgreich davon zu überzeugen, dass ein endloses Bleiben in Tumaco keine Option ist, auch wenn es sich noch so sehr nach Zuhause anfühlt.

Generationenwechsel

Unser wunderbares Team und die Jugendlichen vom CENTRO AFRO gehen diesen Weg des Abschiednehmens sehr bewusst, transparent und liebevoll mit mir. Dafür bin ich unendlich dankbar! Natürlich teile ich nicht jede vorauseilende Sorge oder resignierende Einsicht mit ihnen, sondern bemühe mich auch in diesen letzten Monaten noch sehr engagiert darum, die Zukunft miteinander so vorzubereiten, dass es eine rundum positive Erfahrung für sie alle wird, selbständig weiterzumachen und dann vielleicht auch manches ganz anders zu lösen. Es ist ja nichts in Stein gemeißelt, und doch gibt es natürlich ein paar Regeln, die sich in den drei vergangenen Jahren als sinnvoll erwiesen und dem CENTRO AFRO Sicherheit gegeben haben. So haben wir uns in den letzten Monaten recht intensiv auch mit institutionell-strategischen Themen auseinandergesetzt, mit administrativen Herausforderungen und mit der so wichtigen Korruptions- und Missbrauchsprävention. Neu im Koordinationsteam ist seit Jahresbeginn der 28-jährige Leonardo. Er hat das CENTRO AFRO als Jugendlicher mit gegründet und ist uns seitdem immer treu geblieben – zunächst als Schauspieler im Friedenstheater und als Mitglied in einer Jugendgruppe, später als langjähriger Sänger in der HipHop-Band AfroMiTu und im Jugendvorstand. Bereits vor drei Jahren hat er sein Studium abgeschlossen und doch – wie so viele motivierte junge Menschen – leider nie eine feste Anstellung gefunden. So war er doppelt erfreut, als wir Ende letzten Jahres mit dem Vorschlag einer hauptamtlichen Mitarbeit im CENTRO AFRO an ihn herangetreten sind. Seither arbeitet er sich sehr engagiert in die vielen Aufgaben ein, die er seinem eigenen Profil entsprechend, aber in gewisser Weise auch in meiner Nachfolge übernehmen soll. Mit gesundem Humor schlägt er sich wacker in den wöchentlichen Teamsitzungen mit uns drei routinierten Frauen. Außerdem hat er mit seiner zupackenden Art und teilweise auch ganz anderen Herangehensweise Bewegung ins Team gebracht, die gut tut und uns erahnen lässt, was in Zukunft vielleicht auch anders werden könnte.

Jugendtreffen in Cali

Ein erster wichtiger Testlauf für und mit Leonardo war ein großes Jugendtreffen Ende Juni in Cali, zu dem fast 150 Jugendliche anreisten, mit denen die Comboni-Missionare auf ganz unterschiedliche Weise zusammenarbeiten. Die farbenfrohe Kirche der gastgebenden Pfarrei, in einem der ärmsten Stadtviertel von Cali gelegen, war in diesen Tagen auf einmal nicht mehr nur Gottesdienstraum, sondern auch Konzert- und Theaterbühne, Kino- und Speisesaal, Gruppen- und Ruheraum für die vielen jungen Menschen, die aus den unterschiedlichsten Landesteilen gekommen waren. Die größte Gruppe waren wir vom CENTRO AFRO. Mit vierzig Jugendlichen, Koffern, Kisten und Rucksäcken, Trommeln, Jonglierkeulen, Einrädern und Kostümen waren wir sechzehn Stunden (einfach) im Bus unterwegs. Die allerwenigsten unserer Kids hatten überhaupt schon einmal eine so weite Reise angetreten, und entsprechend aufgeregt waren sie natürlich. Seit Jahresbeginn hatten wir sie in einer ganzen Reihe von Workshops inhaltlich vorbereitet, aber auch ein Bühnenstück mit ihnen entwickelt, das Eindruck hinterlassen sollte. Außerdem waren sie wochenlang mit einer selbstgebastelten Spendenbox von Tür zu Tür unterwegs gewesen, jonglierten und tanzten gegen einen kleinen Obolus auf der Straße, verkauften Lottolose und Süßigkeiten und sparten sich wirklich jeden Peso für die Fahrtkosten vom Munde ab. Am Ende sollte es für alle reichen, incl. einem nagelneuen Gruppen-T-Shirt, mit dem sie strahlend in Cali aus dem Bus stiegen.

Am ersten Kennenlernabend präsentierte jede Gruppe einen kleinen kulturellen Programmpunkt: Tänze, Lieder, Gedichte. Doch das Highlight war der Auftritt der Truppe vom CENTRO AFRO. Die Jugendlichen hatten sich mit Leonardo und unserer Tanzlehrerin Diana gut überlegt, wie sie ihre Region würdig vertreten und damit auch dem schlechten Ruf Tumacos etwas entgegensetzen könnten. So war eine Art Tanz-Zirkus-Theaterstück entstanden, das von ihrem Leben erzählt, von Angst, Trauer und Verlust, aber vor allem auch von ihrem höchstpersönlichen Widerstand gegen die Gewalt durch Kunst, Kultur und ihre Jugendgruppenarbeit. Es war ein bunter, fröhlicher und artistisch anspruchsvoller Auftritt verbunden mit einem unmissverständlichen Aufruf gegen Waffen, gegen militarisierte Gesellschaften und für eine Welt voller Vielfalt und Respekt. Das Publikum feierte die Darbietung mit minutenlangen Standing Ovations, und Leonardo atmete erleichtert durch. Geschafft! Es folgte ein Wochenende voller neuer Freundschaften, intensiver Reflexionen und Aufgaben, die in gemischten Teams gelöst werden mussten, lebendiger Gottesdienste, bewegender Lebenszeugnisse und kollektiver Nachtlager. Der Funke sprang förmlich auf das gesamte Stadtviertel rund um die kleine Kirche über. Zum Abschluss durfte natürlich auch etwas Tourismus nicht fehlen, denn die meisten Jugendlichen werden wohl nicht so schnell wieder in die Millionenstadt kommen. Mit Trommeln, Gesängen und spontanen Tanzeinlagen zogen wir durch die Innenstadt, lernten die Flaniermeile Calis und die Kathedrale, das große Stadion und schöne Plätze kennen. Überall sorgten die Jugendlichen für gute Stimmung und hinterließen einen sehr erfrischenden Eindruck junger Menschen, die das Leben lieben und die Welt positiv verändern.

Apropos Stadion

Während man sich in Lateinamerika natürlich keine Fußball-EM entgehen lässt, bin ich nicht sicher, ob in Europa auch von den Amerikameisterschaften berichtet wurde, die zeitgleich stattfanden. So war also auch Kolumbien in den letzten Wochen im Fußballfieber mit einer sympathischen Mannschaft, die selbst die ganz Großen ordentlich ins Schwitzen brachte. Bereits in der Gruppenrunde haben sie Brasilien hinter sich gelassen, im Viertelfinale dann Panama mit 5:0 vom Platz gefegt und sich im Halbfinale tapfer gegen Uruguay durchgesetzt. Die Stimmung im CENTRO AFRO war unbeschreiblich, auch wenn zwischendurch minutenlang der Strom ausfiel und unser langsames Internet die Spannung phasenweise bis ins Unerträgliche steigerte. Unsere Kids hatten ihre Nationalelf noch nie so erfolgreich erlebt, denn vor über zwanzig Jahren war Kolumbien zum letzten Mal ins Finale einer Copa América gelangt. Kein Wunder also, dass Präsident Gustavo Petro den Montag nach dem Finale gleich mal zum nationalen Feiertag ausrief – egal, ob Sieg oder Niederlage. Spannend wurde es dann bereits vor dem Anpfiff im Hard Rock Stadium von Miami, denn Tausende von Fans mit vermeintlich gefälschten Eintrittskarten drängten auf die Eingänge zu, durchbrachen Barrieren und erzeugten ein Chaos, das die Sicherheitskräfte vollkommen überforderte. Auch auf den Fernsehbildschirmen war lange unklar, was passieren würde, doch die Menschen um mich herum hier in Tumaco nahmen die 82 (!!!) Minuten ungeplanter Wartezeit mit geübter Gelassenheit zur Kenntnis und feierten sich langsam warm. Das anschließende sehr ausgeglichene Spiel mit einer sehr knappen 0:1-Niederlage gegen den Weltmeister Argentinien trugen sie am Ende mit selbiger Fassung und bejubelten ihre Mannschaft zwar mit einem gewissen Stolz, aber auch mit dem Wissen darum, dass es letztlich eben doch nur Fußball ist.

In diesem Sinne hoffe ich, dass es Euch allen ebenso gut geht wie mir und wünsche Euch noch einen wunderbaren Sommer! Vielen lieben Dank für all Eure Unterstützung und ganz herzliche Grüße,

Eure
Ulrike Purrer