22. Februar 2024
In den vergangenen zwölf Monaten hat sich unglaublich viel ereignet in Deutschland, Ecuador und auf dem gesamten Erdball! Die Welt ist voller Krisen, und Krisen hinterlassen Spuren!
In Ecuador lernen wir derzeit, wie man mit Gewalt, organisierter Kriminalität und dem tagtäglichen Morden auf der Straße umgeht, sei es wegen dem Drogenhandel, Erpressung, Entführung, Racheakten wegen Anzeigen gegen „Gangster“ und deren Handlanger. Es vergeht fast keine Woche, ohne dass mich bzw. uns als Familie Todesnachrichten aus dem Bekannten- und Freundeskreis erreichen. Leider kommt man sehr einfach an Waffen, und die Justiz tut so gut wie gar nichts, eben aus Angst, dass sie zu den nächsten Opfern gehören.
So macht sich große Unsicherheit und Angst breit. Trotz allem bin ich weiterhin fast immer alleine, jedoch vorsichtiger im Auto unterwegs …. Die Provinz Esmeraldas zählt zu einer der gefährlichsten und hat mitunter die höchste pro Kopf-Mordrate in Ecuador. Zeitweilen gleicht die Stadt Esmeraldas einer Geisterstadt, denn wegen der hohen Kriminalität schließen bereits ab 17 Uhr viele Läden. Die meisten Leute wollen noch bei Tageslicht nach Hause kommen, und deshalb ist die Stadt ab 18.30 Uhr so gut wie leergefegt. Marode Straßen, mit riesigen Löchern, gerade in der Regenzeit große Unfallgefahr und Schäden an Fahrzeugen. Dies und vieles mehr sollte sich mit dem neuen und erst 35-jährigen Präsidenten Daniel Noboa seit Ende November/2024 verbessern!
Neue Stufe der Gewalt in Ecuador, Regierung erklärt „internen bewaffneten Konflikt“: Nächtliche Ausgangssperre, Militäreinsatz auf Straßen und in Gefängnissen. Präsidialdekret verfügt: Drogenbanden sind terroristische Organisationen und kriegerische nichtstaatliche Akteure. Hier die Ereignisse und Fakten: (Quelle: amerika21.de)
8. Januar 2024: Die Gewaltkriminalität in Ecuador ist erneut eskaliert. In mehreren Provinzen kam es gleichzeitig in den vergangenen Tagen zu gewalttätigen Angriffen der organisierten Kriminalität. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass José Adolfo Macías Villamar alias „Fito“, Chef des Kartells „Los Choneros“, aus der Haft ausgebrochen war. Staatspräsident Daniel Noboa rief einen Tag später den Ausnahmezustand aus. Dieser beinhaltet den Einsatz des Militärs auf den Straßen und in den Gefängnissen sowie eine landesweite nächtliche Ausgangssperre für zunächst sechzig Tage. Über 3.000 Polizisten und Soldaten fingen an nach „Fito“ zu fahnden, der eine 34-jährige Haftstrafe verbüßte. Wochen später ist dieser „Narco-Chef“ immer noch auf freiem Fuß.
9. Januar 2024: Schwer bewaffnete Männer drangen in eine Livesendung des Fernsehsenders TC Television in Guayquil ein und nahmen mehrere Angestellte als Geiseln, die dann Stunden später durch eine Spezialeinheit der Polizei wieder befreit werden konnten, gleichzeitig wurde auch die Festnahme der sog. „Terroristen“ sichergestellt. Präsident Noboa erklärte als Reaktion darauf Stunden später per Dekret den „bewaffneten internen Konflikt“. Seit diesem Terrorakt und Dekret ist nichts mehr so, wie es vorher einmal in Ecuador war.
Tatsächlich sind die neuesten Ereignisse in Ecuador dramatisch, historisch und absolut außergewöhnlich. Ecuador galt noch 2017 als Beispiel für erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung und mit einer Mordrate von 5,8 je 100.000 Einwohner nach Chile als zweitsicherstes Land Lateinamerikas, so ist die Gewaltkriminalität in den vergangenen Jahren explodiert. Zum Jahresbeginn 2024 berichtete die Zeitung El Universo: „Ecuador beendete das Jahr 2023 mit einer Gesamtzahl von 7.878 Verbrechen, die sich bis zum 31. Dezember 2023 ereignet hatten, was eine Rate von 46,5 Morden, Tötungsdelikten, Femiziden und Auftragsmorden pro 100.000 Einwohner bedeutet. Dies ist die höchste Rate in der Geschichte des Landes.“ In Esmeraldas liegt die Rate bei 80 Morden pro 100.000 Einwohner! Deshalb befinden sich seit Jahresbeginn Militär und Polizei im Dauereinsatz, wozu auch die Nationalversammlung ihre volle Rückendeckung geben hat. Mittlerweile sind sechs Wochen des „internen Krieges“ in Ecuador vergangen. Das Militär und die Polizei haben laut offiziellen Angaben die Gefängnisse landesweit unter ihre Kontrolle gebracht. In Esmeraldas haben wir schon seit 2021 verstärkte Militärpräsenz.
Augenzeugen berichten (meist anonym), wie das Militär mit Spezialkommandos ohne Skrupel vorgeht und die Drogenbanden systematisch verfolgt, Mitglieder festnimmt oder im „Notfall“ erschießt! Dieser interne Kriegszustand fordert heute schon zu viele unschuldige Opfer, meistens Männer, die eben zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind oder durch ihr äußerliches Erscheinungsbild vor allem in der Dunkelheit für Terroristen gehalten und in der Regel erschossen werden! Das Militär hat die klare Anweisung die „transnationalen“ kriminellen Organisationen zu „neutralisieren“, und die im Dekret genannten Gruppen seien damit „ein militärisches Angriffsziel“. Laut Medienberichten nutzen diese Banden die Gefängnisse als ihre wichtigsten Kommando- und Operationszentren, sie sind mit den großen Drogenkartellen in Mexiko und Kolumbien verbunden und personell, finanziell, wie technologisch dem hiesigen Militär und Polizei nach wie vor überlegen.
Der Drogenhandel hat massiv zugenommen und rekrutiert immer mehr junge und arbeitslose Menschen. Ecuador ist so zu einem der größten Drogenexporteure geworden. Nach Schätzungen des US-Außenministeriums wird ein Drittel des kolumbianischen Kokains durch Ecuador transportiert, bevor es nach Nordamerika und Europa gelangt. 2022 wurden 201,3 Tonnen Drogen beschlagnahmt, die zweithöchste Zahl in der Geschichte des Landes. Erst vor Tagen waren deshalb die Bürgermeister der drei großen Hafenstädte von Hamburg, Rotterdam und Antwerpen zu Besuch in Quito und Guayaquil, um zusammen mit der ecuadorianischen Regierung eine bessere Kontrolle der Seefracht und des Drogengeschäftes zu erreichen. Die Schritte Noboas stießen bislang im gesamten politischen Spektrum des Landes auf breite Zustimmung. Die Mehrheit der Bevölkerung steht ebenfalls voll dahinter, spendet Nahrungsmittel und bejubelt ihre Polizei und Streitkräfte im Kampf gegen die „Bösen“. Selbst Ex-Präsident Rafael Correa (2007-2017), der in Belgien im Exil lebt, bot Noboa seine Unterstützung an und sagte, über politische Differenzen werde man am Tag nach dem Sieg über die organisierte Kriminalität sprechen.
Die Ursachen des sehr teuren „internen bewaffneten Konfliktes“ sind auch schon in der Vergangenheit zu suchen. Mit der „Dollarisierung“ im Jahr 2000 wurde in Ecuador sicher ein wichtiger Grundstein dafür gelegt. Geldwäsche und anwachsende Korruption in der Justiz und staatlichen Firmen gingen damit einher. Die Wirtschaftskrise und die um sich greifende Perspektivlosigkeit betrifft vor allem die junge Bevölkerung. Viele Ecuadorianer wanderten schon immer besonders in die USA, Spanien und Italien aus. Seit einem Jahr hat eine zweite Auswanderungswelle begonnen, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist. Der „interne Krieg“ in Ecuador verdeutlicht gleichzeitig eine regionale Krise in Lateinamerika. Experten warnen eindringlich davor, dass das einseitige Setzen auf Gewalt nur zu einer weiteren Eskalation führen werde, wie dies beim „Plan Colombia“ oder in Mexiko bei der Mérida-Initiative der Fall war, die auf den „Krieg gegen Drogen“ ausgerichtet waren und heute noch unter den Folgen leiden, wirtschaftlich wie humanitär.
Fakt ist, dieser „Krieg gegen Drogen“ kostet den ecuadorianischen Staat schon jetzt viel Geld. Und es ist ein Krieg, der noch Monate, wenn nicht gar Jahre andauern kann, sehr viel Geld kosten wird, welches dann für Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Straßenbau, Wohnungsbau und so vieles mehr für die Entwicklung des Landes fehlen wird. Deshalb hat die Regierung im Eiltempo eine dynamische Erhöhung der Mehrwertsteuer von 12% auf 13% bis 15% auf den Weg gebracht. Es geht um das schnelle Geld, vor allem der geringen Mittelschicht in Ecuador! Niemand in der Regierung will bislang die reichen Familienunternehmen im Land angehen, die viel Geld im Ausland haben und in den sogenannten Steuerparadiesen für sich arbeiten lassen. Dazu muss Ecuador Auslandsschulden tilgen, damit man es neue Schulden-Kredite aufnehmen kann.
Nun das ist eine Seite des „internen bewaffneten Konfliktes“, die andere Seite spiegelt die dauerhafte humanitäre Krise und das menschliche Leid durch Gewalt und Tod wieder.
Hier sind wir sehr besorgt um das Ausmaß der sehr schweren Krise in Esmeraldas, denn viele Leute, besonders Kinder und Frauen, sind von Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit betroffen. Als Kirche helfen wir gerade obdachlosen Familien, die durch Überschwemmungen ihr Haus verloren haben, unterstützen Flüchtlinge aus Kolumbien und Venezuela, bilden junge Frauen und Männer in handwerklichen Berufen im Grenzgebiet zu Kolumbien aus, machen Workshops zum Thema Prävention gegen sexualisierte Gewalt, fördern junge Frauen und Mütter in Näh- und Backkursen durch mehr Eigenverantwortung hin zur Selbstständigkeit und Menschenwürde! Zudem erbauen wir im Urwald, in Zusammenarbeit mit den Gemeinden, kleine Kapellen und in Stadtnähe neue Gemeindezentren, um zukünftig näher in den sozialen Brennpunkten und bei den Menschen zu sein!
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass alle Menschen, egal welcher Herkunft und Sprache, Hoffnung und Sehnsucht nach Frieden im Herzen tragen. Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg bringen nur Leid, Hass, Tod, Trauer, Rachegefühle und noch mehr Unfrieden hervor. Möge der liebende und menschenfreundliche Gott uns alle auf Wegen in eine gerechtere, freie und friedliche Zukunft begleiten, uns stärken und segnen, um miteinander Schritte der Versöhnung und des Friedens zu wagen.
Mit vielen guten Wünschen und herzlichen Grüßen
Mike Zipf