Viele Dinge geschehen im Leben, die wir nicht kontrollieren können oder um die wir uns nicht bemühen. Wenn man in Gedanken dorthin zurückkehrt, stellt man fest, dass es nicht vorrangig darauf ankam, sich Mühe zu geben, sondern „Ja“ zu dem zu sagen, was man für richtig hielt, und den Mut zum Springen zu haben, ohne zu wissen, wo man landet. Pater Alfred Mawadri aus Moyo in Norduganda hat diese Erfahrung gemacht.

Manchmal erlaube ich mir, in Gedanken in mein früheres Leben zurückzukehren, und unweigerlich staune ich über diesen geheimnisvollen komplexen Wandteppich. Bei diesem Rückblick begegne ich einer Reihe bedeutsamer Gesichter, ich erlebe noch einmal freudige und schmerzhafte Ereignisse, die meine Existenz prägten, und ich sehe mich in schmerzhaften und freudigen Situationen, die mich dazu zwangen, Entscheidungen zu treffen, die ich später bereuen sollte oder auf die ich stolz sein würde.

Überraschenderweise kann ich immer einen goldenen Faden erkennen, der sich durch meine vierzig Jahre zieht und zwischen den düsteren Farben glitzert. Dieser Faden ist der Glaube, der das Risiko eingeht, Gott zu vertrauen. Dank ihm merke ich, dass alles in meinem Leben einen Sinn ergibt, und das stützt mein Vertrauen darauf, dass der Weber auch meine Zukunft mit dem Glitzern von Gold verschönern wird.

Ich war mit liebenden Eltern gesegnet. Papa war ein Mann voll Integrität und innerer Stärke. Mama war eine wunderbar mitfühlende Person, die mich und meine Geschwister in Worten und Taten christliche Werte lehrte. Ihre Fähigkeit, ihre Familie und ihre Nachbarn zu lieben, hatte großen Einfluss auf mich.

Unsere Großfamilie war seit mehreren Jahrzehnten katholisch. Pater Santino Kadu, mein Onkel, war einer der ersten Priester der Diözese Arua im Nordwesten Ugandas gewesen. Ich habe ihn nie getroffen, weil er schon vor meiner Geburt gestorben war, aber die Leute sprachen wunderbar von ihm. Dank dem, was Mama und Papa uns von ihm erzählten, und dank eines Fotos an einer Wand in unserem Wohnzimmer war er ständig in unserer Familie gegenwärtig.

Unsere Pfarrei in der Stadt Moyo war eine der ersten in Norduganda. Sie war 1917 von den Comboni-Missionaren gegründet worden und wurde noch immer von ihnen geleitet, als ich Ministrant wurde. Ich hatte täglich Kontakt zu ihnen. Ich bewunderte sie. Sie waren fantastisch im Umgang mit den Menschen im Allgemeinen und mit der Jugend im Besonderen. Ihre Liebe zu uns hielt die Dinge in den vielen Institutionen, die sie verwalteten, am Laufen.

Als ich alt genug war, um Mitglied der Pfarrjugendgruppe zu werden, bin ich ihr beigetreten. Pater Aladino Mirandola, ein Italiener, der 1954 nach Uganda gekommen war, betreute sie. Obwohl er damals schon ziemlich alt war, verbreitete er Freude, wo immer er war. Wenn ich mich mit einem Problem an ihn wandte, lösten seine Worte es, und wie durch Zauberhand zerbrach die Last, die ich auf dem Herzen hatte. Wie schön wäre es, so zu sein wie er!

Im August 1988 wurde mein Cousin William Nyadru, der einige Jahre zuvor in das Postulat der Comboni-Missionare eingetreten war, in der Pfarrei Moyo zum Priester geweiht. Ich fühlte mich pudelwohl und erzählte allen Anwesenden bei der Festveranstaltung, dass er mein Cousin war, der Sohn meiner Tante Katerina. In seinem weißen Gewand erschien er mir wie ein Held. Für einen Moment sah ich mich an seiner Stelle, und ich habe mich riesig gefreut. Am Ende der Feier sagte ich zu Pater Aladino: „Ich werde so sein wie er.“

Drei Jahre später, am 25. Oktober 1991, wurde Pater William, der in die Missionsstation Moroto in der Region Karamoja entsandt worden war, an einem abgelegenen Ort tot aufgefunden. Sein Körper lag mit dem Gesicht nach unten im Gras. Er war bis auf die Unterhose ausgezogen worden. Seine Arme und Hände waren gekreuzt, um seinen Kopf zu stützen. Obgleich die Position ihm von anderen aufgezwungen worden war, sah es doch bedacht, vorsichtig und gelassen aus. Sein Herz war von einer Kugel durchbohrt, die in seinen Rücken geschossen worden war, und der Boden unter ihm war noch feucht von seinem Blut. Sein Motorrad war ordnungsgemäß abgestellt und unbeschädigt. Man hatte ihm nicht abgenommen. Er war nicht von Räubern getötet worden. Wahrscheinlicher ist, dass die Wahrsager aus der Gegend den Kriegern befohlen hatten, jemanden – egal wen – auf einem Motorrad zu töten, um den Clan vor einer drohenden Katastrophe zu bewahren. Viele Besitzer von Motorrädern in der Gegend fuhren nicht mehr damit herum.

Der Leichnam von Pater William wurde in Moyo begraben. Ich diente bei der Trauerfeier als Ministrant. Ich schaute immer wieder auf seinen Sarg, der genau dort stand, wo Pater William am Tag seiner Priesterweihe gelegen hatte. Der Gedanke, dass er sich im höchsten Moment seines Lebens auf den Boden gelegt hatte, wobei der Kopf auf seinen gekreuzten Händen ruhte, überzeugte mich, dass sein Tod ein „Opfer“ gewesen war.

Am Ende der Zeremonie legte Pater Aladino mir den Arm um die Schultern und sagte: „Unser christlicher Glaube lässt keinen Zweifel daran, dass William nicht umsonst gestorben ist. Wir können sicher sein, dass der Herr mannigfaltige Gaben aus seinem Opfer hervorbringen wird.“ Ich flüsterte: „Ich werde seinen Platz einnehmen.“

Ein Jahr später begann ich die Sekundarschule, und der Gedanke, P. William nachzufolgen, verblasste. Wie jeder andere Schüler mit Träumen von einer strahlenden Zukunft stürzte ich mich auf meine Studien. Ich wollte Ingenieur werden. Für meinen A-Level-Abschluss entschied ich mich für Physik, Chemie und Mathematik.

Gegen Ende der Sekundarschule besuchte ich eine Reihe von Wochenenden, die von der YCS (Schüler der jungen Christen) und der Berufungsgruppe der Schule organisiert wurden. Bei diesen Exerzitien sollte eines Nachmittags jeder einen Bibeltext lesen und reflektieren. Auf dem Papier, das ich aus der Schachtel herausnahm, stand:  „Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Und Matthäus stand auf und folgte ihm nach.2 (Mt 9, 9)

Ich war versucht, das Blatt fallen zu lassen und ein anderes zu nehmen, aber etwas in mir hinderte mich daran. In der nächsten Stunde kämpfte ich mit diesem Text – der bald zu einer klaren Stimme wurde – und ich verlor. Die Worte, die ich Pater Aladino am Ende der Beerdigung von Pater William zugeflüstert hatte, dröhnten jetzt in meinem Kopf, und ich konnte sie nicht zum Schweigen bringen.

Es war nicht einfach, mit der Flut an Gedanken und Emotionen umzugehen, die mich mehrere Wochen lang begleitete. Die Situation war nicht mehr die gleiche. 1994, als ich noch in der Klasse Senior 1 war, war meine Mutter gestorben und hinterließ in mir eine Lücke, die niemand füllen konnte. Nach und nach kam ich jedoch meinen jüngeren Geschwistern immer näher, kümmerte mich um sie und gab ihnen, was Mama über ihnen ausgegossen hatte. Zwischen uns wuchs ein starkes Band der Liebe. Wir unterstützten uns gegenseitig auf jede erdenkliche Weise. Gemeinsam verrichteten wir die Hausarbeit. Wir waren ein Herz und eine Seele. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, mich eines Tages von ihnen trennen zu müssen.

Am Ende aber musste ich den Zweig des Baumes, an dem ich mich festhielt – die Verbundenheit mit meiner Familie – loslassen, und ich schloss mich den Comboni-Missionaren an. Wie Matthäus habe ich sie verlassen und die Idee, Ingenieur zu sein, und die Art des Lebens, dich ich damit verband, aufgegeben. Im Leben ist man dazu aufgerufen, Risiken einzugehen, schmerzhafte Entscheidungen zu treffen und sich in eine unbekannte Zukunft zu stürzen.

Im August 2000 trat ich für ein dreijähriges Philosophiestudium ins Comboni-Postulat in Jinja ein. Im August 2003 begann ich das Noviziat in Namugongo. Im Mai 2005 legte ich in meiner Heimatpfarrei meine Zeitlichen Gelübde ab. Bald darauf wurde ich dem Theologischen Scholastikat von Lima (Peru) zugeteilt, wo ich bis Januar 2010 blieb.

Nach einem einjährigen missionarischen Einsatz in der Gemeinde Kyamuhunga in der Erzdiözese Mbarara in Uganda wurde ich am 14. Januar 2012 in Moyo zum Priester geweiht. An diesem Tag ging die Freude von P. Aldaino durch das Dach. „Du hast dein Versprechen gehalten“, sagte er zu mir. Ich antwortete: „Pater William wird für den Rest meines Lebens mein Leitstern sein“.

Im Mai 2012 wurde ich in die Pfarrei „Heilige Dreifaltigkeit“ in Alt-Fangak, Diözese Malakal, im nördlichen Teil des Staates Jonglei im Südsudan versetzt, bei den Hirten der ethnischen Gruppe der Nuer. Das Gebiet heißt Al-Suud (ein arabisches Wort für „Barriere“ oder „Behinderung“). Es ist der größte Sumpf der Welt und einer der entlegensten und ärmsten Orte Afrikas. Die Menschen, vor allem Kinder, sterben an Malaria, Kala-Azar (Anm.: Leishmaniose, eine tropische Infektionskrankheit, die durch Parasiten ausgelöst wird), Durchfall und Unterernährung.

Das Leben ist schwierig in Old Fangak.

Das Gemeindegebiet erstreckt sich über eine Länge von hundert Kilometern (von Norden nach Süden) und eine Breite von fünfzig Kilometern. Die Bevölkerung liegt bei etwa 120.000. Es gibt 60 christliche Gemeinschaften, die jeweils von einem Katechisten und einem Komitee von Menschen geleitet werden, die sich mit praktischen Dingen beschäftigen. Der Katechist leitet sonntags das Gebet, er ist Lehrer im Katechismusunterricht und steht den Gemeindeversammlungen vor.

Es gibt keine Straßen in der Mission Old Fangak. Wir haben keine Autos, Motorräder oder Fahrräder. Wir wandern von einer Gemeinde zur nächsten und durchqueren riesige Sümpfe. Wir haben auch keine Handys. Die Internetverbindung, die nur im Zentrum vorhanden ist, ist in der Regel unterbrochen. Wenn ein Pater Old Fangak für eine Pastoralreise verlässt, weiß er, dass er erst in ein oder zwei Monaten wieder zurück sein wird. Er muss sich auf die Menschen und ihre Großzügigkeit verlassen.

Die große Hoffnung, die auf der Unabhängigkeit im Jahr 2011 ruhte, ist zu einem schwachen Licht verblasst. Im letzten Konflikt kamen viele Menschen ums Leben, Tausende wurden vertrieben. Das zu erleben, war für mich eine schwierige Prüfung. Und ist es immer noch. Dennoch habe ich immer genug Gründe gefunden, um mich anzutreiben. Die Nuer lehrten mich, geduldig, demütig, besonnen und hoffnungsvoll zu sein und vor allem gemeinsam zu arbeiten und die Not zu überwinden. Jetzt weiß ich, dass gute Beziehungen das erste Werkzeug des Missionars bei der Erstevangelisierung sind.

Ich glaube weiterhin, dass das Wort Gottes, das ich säe, eines Tages sprießen und Frucht tragen wird. Inzwischen akzeptiere ich gerne, mit dem Nuer zu leiden und mit ihnen die kleinen Freuden des Lebens zu genießen. Und jeden Tag bete ich, dass ich es immer wert bin, Pater Williams Cousin zu sein.

Pater Alfred Mawadri