15. November 2024
Seit 2017 findet alljährlich im November der Welttag der Armen statt, den Papst Franziskus zum Abschluss des „außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit“ eingesetzt hatte. In diesem Jahr steht er unter dem Leitwort „Das Gebet des Armen steigt zu Gott empor“ (vgl. Sir 21,5). Lesen Sie im Folgenden die Botschaft des heiligen Vaters:
Liebe Brüder und Schwestern!
Das Gebet des Armen steigt zu Gott empor (vgl. Sir 21,5). Im Jahr, das dem Gebet gewidmet ist, und im Hinblick auf das ordentliche Jubiläum 2025 ist diese Aussage biblischer Weisheit umso angemessener, um uns auf den achten Welttag der Armen vorzubereiten, der am 17. November stattfinden wird. Die christliche Hoffnung schließt auch die Gewissheit ein, dass unser Gebet vor das Angesicht Gottes gelangt; aber nicht irgendein Gebet: das Gebet des Armen! Denken wir über dieses Wort nach und „lesen“ wir es auf den Gesichtern und in den Geschichten der Armen, denen wir in unseren Tagen begegnen, damit das Gebet zu einem Weg der Gemeinschaft mit ihnen wird und wir ihr Leid teilen.
Das Buch Jesus Sirach, auf das wir uns beziehen, ist nicht sehr bekannt und verdient es, entdeckt zu werden wegen der Fülle der Themen, die es anspricht, besonders wenn es die Beziehung des Menschen zu Gott und zur Welt berührt. Sein Autor, Ben Sira, ist ein Lehrer, ein Schriftgelehrter aus Jerusalem, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. schrieb. Er ist ein weiser Mann, der in der Tradition Israels verwurzelt ist und über verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens lehrt: von der Arbeit bis zur Familie, vom Leben in der Gesellschaft bis zur Erziehung der Jugend; er widmet sich den Fragen des Glaubens an Gott und der Einhaltung des Gesetzes. Er behandelt die nicht einfachen Probleme der Freiheit, des Bösen und der göttlichen Gerechtigkeit, die auch für uns heute sehr aktuell sind. Ben Sira, inspiriert vom Heiligen Geist, möchte allen den Weg zu einem weisen und würdigen Leben vor Gott und den Brüdern und Schwestern aufzeigen.
Eines der Themen, dem dieser heilige Schriftsteller am meisten Raum widmet, ist das Gebet. Er tut dies mit großem Eifer, weil er seine persönliche Erfahrung zum Ausdruck bringt. In der Tat könnte keine Schrift über das Gebet wirkungsvoll und fruchtbar sein, wenn sie nicht von denen stammt, die jeden Tag in Gottes Gegenwart weilen und auf sein Wort hören. Ben Sira erklärt, dass er schon in seiner Jugend nach Weisheit strebte: »Als ich noch jung war, bevor ich auf Wanderschaft ging, habe ich offen in meinem Beten Weisheit gesucht« (Sir 51,13).
Auf seinem Weg entdeckt er eine der grundlegenden Wirklichkeiten der Offenbarung, nämlich die Tatsache, dass die Armen einen bevorzugten Platz im Herzen Gottes einnehmen, dass Gott angesichts ihres Leidens sogar „ungeduldig“ ist, bis er ihnen Gerechtigkeit widerfahren lässt: »Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, und bevor es nicht angekommen ist, wird er nicht getröstet und er lässt nicht nach, bis der Höchste daraufschaut. Und er wird für die Gerechten entscheiden und ein Urteil fällen. Und der Herr wird gewiss nicht zögern und nicht langmütig sein gegen die Unbarmherzigen« (Sir 35,21-22). Gott kennt die Leiden seiner Kinder, denn er ist ein aufmerksamer und fürsorglicher Vater für alle. Als Vater kümmert er sich um diejenigen, die ihn am meisten brauchen: die Armen, die Ausgegrenzten, die Leidenden, die Vergessenen … Aber niemand ist aus seinem Herzen ausgeschlossen, denn wir alle sind vor ihm arm und bedürftig. Wir sind alle Bettler, denn ohne Gott wären wir nichts. Wir hätten nicht einmal das Leben, wenn Gott es uns nicht geschenkt hätte. Und doch, wie oft leben wir so, als ob wir die Herren über das Leben wären oder als ob wir es erobern müssten! Die weltliche Denkweise fordert, dass wir jemand sind, dass wir uns trotz allem und jedem einen Namen machen, dass wir gesellschaftliche Regeln brechen, um ja nur Reichtum zu erreichen. Was für eine traurige Illusion! Das Glück erlangt man nicht, indem man das Recht und die Würde anderer mit Füßen tritt.
Die durch Kriege verursachte Gewalt zeigt deutlich, wie viel Anmaßung diejenigen bewegt, die sich vor den Menschen für mächtig halten, während sie in den Augen Gottes erbärmlich sind. Wie viele neue Arme verursacht diese schlechte, mit Waffen gemachte Politik, wie viele unschuldige Opfer! Doch wir dürfen nicht zurückweichen. Die Jünger des Herrn wissen, dass jeder dieser „Kleinen“ das Antlitz des Gottessohnes trägt, und unsere Solidarität und das Zeichen der christlichen Nächstenliebe müssen jeden Einzelnen erreichen. »Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 187).
In diesem Jahr, das dem Gebet gewidmet ist, müssen wir das Gebet der Armen zu unserem eigenen machen und zusammen mit ihnen beten. Das ist eine Herausforderung, die wir annehmen müssen, und eine pastorale Tätigkeit, die gefördert werden muss. Denn »die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, ist der Mangel an geistlicher Zuwendung. Die riesige Mehrheit der Armen ist besonders offen für den Glauben; sie brauchen Gott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ihnen seine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort, die Feier der Sakramente anzubieten und ihnen einen Weg des Wachstums und der Reifung im Glauben aufzuzeigen. Die bevorzugte Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen« (ebd., 200).
All dies erfordert ein demütiges Herz, das den Mut hat, zum Bettler zu werden. Ein Herz, das bereit ist, sich als arm und bedürftig zu erkennen. Es besteht nämlich ein Zusammenhang zwischen Armut, Demut und Vertrauen. Der wahrhaft Arme ist der Demütige, wie der heilige Bischof Augustinus sagte: »Der Arme hat nichts, worauf er stolz sein kann, der Reiche hat seinen Stolz zu bekämpfen. Höre also auf mich: Sei ein wahrhaft Armer, sei tugendhaft, sei demütig« (Sermones, 14, 4). Der demütige Mensch hat nichts, dessen er sich rühmen kann, und er beansprucht nichts, er weiß, dass er nicht auf sich selbst zählen kann, glaubt aber fest daran, dass er sich auf die barmherzige Liebe Gottes berufen kann, vor dem er wie der verlorene Sohn steht, der reumütig nach Hause zurückkehrt, um die Umarmung seines Vaters zu empfangen (vgl. Lk 15,11-24). Da der Arme nichts hat, worauf er sich stützen kann, erhält er Kraft von Gott und setzt sein ganzes Vertrauen in ihn. In der Tat schafft die Demut das Vertrauen, dass Gott uns nie verlassen und uns nicht ohne Antwort lassen wird.
Den Armen, die in unseren Städten leben und Teil unserer Gemeinschaften sind, sage ich: Verliert nicht diese Gewissheit! Gott achtet auf einen jeden von euch und ist euch nahe. Er vergisst euch nicht und könnte dies auch nie tun. Wir alle machen die Erfahrung, dass Gebete scheinbar unbeantwortet bleiben. Manchmal bitten wir darum, aus einer Notlage befreit zu werden, die uns leiden lässt und uns demütigt, und Gott scheint unsere Anrufung nicht zu erhören. Doch Gottes Schweigen bedeutet nicht, dass er von unserem Leid abgelenkt ist, sondern es enthält ein Wort, das vertrauensvoll angenommen werden will, indem wir uns ihm und seinem Willen überlassen. Wieder ist es Jesus Sirach, der dies bezeugt: „Die Bitte eines Armen dringt an sein Ohr, das Urteil Gottes kommt mit Eile“ (vgl. 21,5). Aus der Armut kann also das Lied echter Hoffnung entspringen. Erinnern wir uns: »Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun. […], das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 2).
Der Welttag der Armen ist nunmehr zu einem festen Termin für jede Gemeinschaft in der Kirche geworden. Er ist eine nicht zu unterschätzende pastorale Gelegenheit, weil er jeden Gläubigen dazu anregt, auf das Gebet der Armen zu hören und sich ihrer Gegenwart und Bedürfnisse bewusst zu werden. Es ist eine günstige Gelegenheit, um Vorhaben zu verwirklichen, die den Armen konkret helfen, und auch, um die vielen Freiwilligen anzuerkennen und zu unterstützen, die sich leidenschaftlich für die Bedürftigsten einsetzen. Wir müssen dem Herrn für die Menschen danken, die sich zur Verfügung stellen, um den Ärmsten zuzuhören und sie zu unterstützen. Es sind Priester, Personen des geweihten Lebens und Laien, die mit ihrem Zeugnis der Antwort Gottes auf die Gebete derer, die sich an ihn wenden, eine Stimme geben. Die Stille wird also jedes Mal gebrochen, wenn ein Bruder oder eine Schwester in Not willkommen geheißen und umarmt wird. Die Armen haben noch viel zu lehren, denn in einer Kultur, die den Reichtum an die erste Stelle gesetzt hat und die Würde der Menschen oft auf dem Altar der materiellen Güter opfert, rudern sie gegen den Strom und weisen darauf hin, dass das Wesentliche im Leben etwas ganz anderes ist.
Das Gebet findet also die Bestätigung seiner Echtheit in der Nächstenliebe, die zur Begegnung und zur Nähe wird. Wenn das Gebet nicht zu konkretem Handeln führt, ist es vergeblich; denn »der Glaube ohne Werke [ist] tot« (Jak 2,26). Nächstenliebe ohne Gebet läuft hingegen Gefahr, zu einer Philanthropie zu werden, die sich bald erschöpft. »Ohne das in Treue gelebte tägliche Gebet wird unser Tun leer, verliert es die tiefste Seele, wird es zum reinen Aktivismus reduziert« (Benedikt XVI., Katechese, 25. April 2012). Wir müssen dieser Versuchung widerstehen und immer wachsam sein mit der Kraft und Ausdauer, die vom Heiligen Geist kommt, der der Spender des Lebens ist.
In diesem Zusammenhang ist es schön, sich an das Zeugnis von Mutter Teresa von Kalkutta zu erinnern, einer Frau, die ihr Leben für die Armen gab. Die Heilige wiederholte immer wieder, dass das Gebet der Ort war, aus dem sie Kraft und Glauben schöpfte für ihre Mission, den Letzten zu dienen. Als sie am 26. Oktober 1985 vor der UN-Generalversammlung sprach und allen den Rosenkranz zeigte, den sie immer in ihrer Hand hielt, sagte sie: »Ich bin nur eine arme Ordensfrau, die betet. Indem ich bete, legt Jesus seine Liebe in mein Herz und ich gehe hin und gebe sie allen Armen, denen ich auf meinem Weg begegne. Betet auch ihr! Betet, und ihr werdet erkennen, welche Armen ihr neben euch habt. Vielleicht auf dem gleichen Treppenabsatz wie euer Zuhause. Vielleicht gibt es sogar in euren Häusern Menschen, die auf eure Liebe warten. Betet und eure Augen werden sich öffnen und euer Herz wird von Liebe erfüllt sein«.
Und wie könnten wir hier, in der Stadt Rom, nicht an den heiligen Benedikt Joseph Labre (1748-1783) erinnern, dessen Leichnam in der Pfarrkirche Santa Maria ai Monti ruht und verehrt wird. Als Pilger aus Frankreich in Rom, der von vielen Klöstern abgelehnt worden war, verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens arm unter den Armen und verbrachte viele Stunden im Gebet vor dem Allerheiligsten Sakrament, mit dem Rosenkranz, betete das Brevier, las im Neuen Testament und in der Nachfolge Christi. Da er nicht einmal ein kleines Zimmer hatte, in dem er wohnen konnte, schlief er gewöhnlich in einer Ecke der Ruinen des Kolosseums, als „Landstreicher Gottes“, und machte sein Leben zu einem unaufhörlichen Gebet, das zu ihm emporstieg.
Auf dem Weg zum Heiligen Jahr ermutige ich jeden, Pilger der Hoffnung zu werden und greifbare Zeichen für eine bessere Zukunft zu setzen. Vergessen wir nicht, »die kleinen Details der Liebe« (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 145) zu bewahren: innezuhalten, sich zu nähern, ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, ein Lächeln, eine Berührung, ein Wort des Trostes … Diese Zeichen kommen nicht von ungefähr; sie erfordern vielmehr tägliche Hingabe, oft im Verborgenen und im Stillen, die aber durch das Gebet Stärkung erfährt. In dieser Zeit, in der das Lied der Hoffnung dem Lärm der Waffen, dem Schrei so vieler verwundeter Unschuldiger und dem Schweigen der unzähligen Opfer von Kriegen zu weichen scheint, richten wir unsere Bitte um Frieden an Gott. Wir sind arm an Frieden und strecken unsere Hände aus, um ihn als kostbares Geschenk zu empfangen, und gleichzeitig bemühen wir uns, ihn in unserem täglichen Leben wiederherzustellen.
Wir sind aufgerufen, in allen Lebenslagen Freunde der Armenzu sein und in die Fußstapfen Jesu zu treten, der der Erste war, der sich mit den Letzten solidarisierte. Möge die allerheiligste Gottesmutter Maria uns auf diesem Weg beistehen, die uns, als sie in Banneux erschien, die Botschaft hinterlassen hat, die wir nicht vergessen dürfen: »Ich bin die Jungfrau der Armen«. Ihr, der sich Gott wegen ihrer bescheidenen Armut zuwandte und die durch ihren Gehorsam Großes vollbrachte, vertrauen wir unser Gebet an, in der Überzeugung, dass es zum Himmel emporsteigen und erhört werden wird.
Papst Franziskus