Liebe Freunde,
die ersten Flugzeuge starten und landen wieder in Ecuador: Nach knapp 77 Tagen Ausnahmezustand öffnen die Flughäfen ab 1. Juni schrittweise. Kaum zu glauben, denn Ecuador hatte weltweit eine der höchsten Pro-Kopf-Infizierten-Rate – und Sterbequoten. Es ist eines der Länder weltweit, das am schlimmsten vom Corona-Virus betroffen ist, mit kaum absehbaren sozialen und wirtschaftlichen Folgen.
Covid-19 hat auch meinen Alltag verändert: Als die WHO am 12. März die Pandemie ausrief, war ich gerade erst in Deutschland angekommen. Sechs Wochen Heimat-Urlaub hatte ich geplant – nun habe ich bereits über drei Monate bei meiner Mutter im baden-württembergischen Hohenlohekreis verbracht. Um mit Esmeraldas in Verbindung zu bleiben, stand auch bei mir „Teletrabajo“, sprich Heimbüro auf der Tagesordnung. Natürlich habe ich mich auch bei Spaziergängen und Besuchen erholt.
Vor meiner Rückkehr wende ich mich an Sie mit einem lange aufgeschobenen Dankesbrief: „MUCHAS GRACIAS“ – HERZLICHEN DANK für all die von Ihnen erhaltene materielle Mithilfe der vergangenen Jahre! Sie haben mit Ihrer Spende die von mir betreuten technischen Schulen unterstützt, den Wiederaufbau nach dem Erdbeben 2016 und andere wichtige Vorhaben in Esmeraldas. Ihre Spende ist immer ohne jeglichen Abzug über die Missionsprokura der Comboni-Missionare angekommen.
Inzwischen sind sieben Jahre vergangen, seit ich mich um unsere technischen Schulen in Esmeraldas kümmere. Besonders liegen mir die Schulen mit den Fachrichtungen in Metall, Elektrik, KFZ, Informatik, Holz und Landwirtschaft am Herzen. Dort haben wir vor dem Ausbruch der Pandemie knapp 7000 Schüler*innen an acht berufsbildenden Gesamtschulen unterrichtet. Die Mehrheit der jungen Menschen sind Afroecuadorianer. Sie kommen überwiegend aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Die Familien leben auf engem Raum und bei tropischer Hitze zusammen. So konnten wir mit den Schulleitungen, Fachlehrern und verschiedenen Herstellern sowie Maschinenhändlern bereits an fünf Schulen Verbesserungen im Werkstattbereich und EDV-Anlagen vornehmen.
Ab Juni beginnt bei uns an der Küstenregion das neue Schuljahr. Bedingt durch die Corona-Pandemie wird der Unterricht zunächst mehrere Monate über Internet und Fernsehen stattfinden, wie fast überall auf der Welt. Wann es wieder normalen, vor allem praktischen Unterricht geben wird, lässt sich derzeit nicht vorhersagen. Dennoch müssen die Werkstätten, Maschinen und Gerätschaften gewartet werden.
Weiterhin ist offen, wie es mit den Projekten weitergeht, die nach dem Erdbeben von 2016 noch im Wiederaufbau sind. Auch viele andere Vorhaben müssen wir erst noch prüfen, denn die Corona-Pandemie hat schon viele Pläne durchkreuzt, und noch ist kein Ende in Sicht. Manche Dinge werden sich auch in Ecuador deshalb verändern. Da hilft uns nur Geduld, Ruhe, Offenheit und das nötige Gott-Vertrauen, dass wir es mit vereinten Kräften schaffen werden und alles gut wird.
Ganz Lateinamerika fehlt es zur Bekämpfung des Virus an medizinischer Ausrüstung und an Geld. Darüber hinaus hat Ecuador immer noch mit den Folgen des Erdbebens 2016 zu kämpfen. Gekoppelt mit Korruption, Bürokratie, hoher Arbeitslosigkeit, zunehmender Verarmung, einem niedrigen Erdölpreis und fehlenden Steuereinnahmen ist ein solider Staatshaushalt fast unerreichbar. Im Mai hat Ecuadors Präsident Lenín Moreno angekündigt, in seinem letzten Amtsjahr die Korruption zu bekämpfen. Zudem hat er Einsparungen im Bildungs- und Gesundheitssektor verkündet sowie die Schließung von acht Staatsunternehmen und die Entlassung von knapp 7000 Staatsbediensteten. Damit will die Regierung viel Geld einsparen und zudem Milliarden der internationalen Schulden tilgen.
Was solche drastischen Entscheidungen für die Armen bedeuten, kann man sich ohne viel Fantasie vorstellen. Sehr viele Firmen, Handwerker, kleine Unternehmen, Restaurants, Friseure, Busunternehmen, Baufirmen sowie die gesamte Tourismusbranche sind durch die Ausgangssperre und fehlende Einnahmen so gut wie pleite. Über 300.000 Menschen haben bislang ihre Arbeit verloren. Auch unsere Schulen spüren die Auswirkungen durch fehlendes Schulgeld und Kündigung von Lehrkräften, die während des virtuellen Unterrichts nicht benötigt werden. Zudem sollen laut Beschluss der Regierung alle Lehrer*innen täglich eine Stunde und andere Beamte sogar zwei Stunden weniger arbeiten und dafür auch proportional weniger verdienen. Ohne einen gerechten Mindestlohn sowie Arbeitslosen – bzw. Kurzarbeitergeld kommen ganz schwere Zeiten auf Ecuador zu.
Sehr hart trifft es unsere Schulen im Erdbebengebiet und im Urwald, wo es kein oder schlechtes Internet gibt. Da ist virtueller Unterricht fast unmöglich. An der wieder aufgebauten Schule auf der Insel Muisne hat sich bislang nur die Hälfe der 600 Schüler*innen für das neue Schuljahr angemeldet, weil die meisten kein Geld für einen Internetanschluss und einen Computer haben. Ohne Arbeit kein Einkommen. Seit dem 12. März gilt eine landesweite Ausgangsperre von 14 Uhr nachmittags bis 5 Uhr morgens. Einmal pro Woche ist Einkaufen mit der letzten Nummer im Personalausweis bzw. des KFZ-Kennzeichens möglich. Am Wochenende geht es nur mit einem Passierschein.
Diese Dauer-Quarantäne ist für arme Menschen keine Lösung. So umgehen viele diese Maßnahmen mit allen Gefahren der Ansteckung, von Geldstrafen bis zu Gefängnis. Hunger ist stärker als das Virus. Ab Juni soll die Ausgangssperre je nach lokaler Bewertung der Lage von 18 Uhr bis 5 Uhr mit zwei Mal Ausgang pro Woche gelockert werden. Das Notstandskomitee will so die Maßnahmen schrittweise lockern. Durch vermehrte Proteste auf den Straßen gegen die Regierung und zunehmende Kriminalität geht das nicht konfliktfrei.
Aus unserem Krankenhaus in San Lorenzo, nahe der Grenze zu Kolumbien, berichtet mir unser leitender Arzt, dass er immer noch auf ein Beatmungsgerät und Masken seitens des Gesundheitsministeriums wartet. Auch wenn die Bevölkerung jung ist, steigt die Infizierten-Rate durch das enge Zusammenleben weiter, es wird wahrscheinlich noch mehr Todesfälle geben. Wir wollen für notleidende und von Covid-19 betroffene Familien Nahrungsmittel und Medizin bereitstellen.
Die Ausgangssperren treffen auch die ecuadorianischen Kirchen. Selbst unser Bischof mit seinen 75 Jahren war die ersten 40 Tage seit der Ausgangsperre stets daheim. An Sonntagen feierte er nach Möglichkeit einen Gottesdienst mit Live-Übertragung auf Facebook. Ab Mitte Juni sollen wieder Gottesdienste möglich sein.
Ich habe den „Lockdown“ hier in Deutschland erlebt und verstehe die Sorgen der deutschen und europäischen Bevölkerung. Trotzdem können wir sehr dankbar sein für die Hilfsbereitschaft vieler Menschen, Dienst von Pflegekräften, Brummifahrern, Kassiererinnen etc. und das Krisenmanagement der Politik. Viele Wissenschaftler sagen, dass die Corona-Krise auch Chancen für Veränderung birgt. Eine echte Chance könnte ein solidarisches, umweltschützendes und wertschätzendes Miteinander sein. Das würde uns allen mehr Frieden schenken, weltweit.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Gesundheit, Zufriedenheit, gute Gedanken, Dankbarkeit für Familie und Freundschaften, sowie die Freude, das Leben mit anderen zu teilen.
Mit dankbaren und herzlichen Grüßen
Mike Zipf