„In Brasilien findet ein Völkermord statt.“ So beginnt der Brief des Dominikaners Frei Betto, eines bekannten Schriftstellers und Befreiungstheologen, der den Tod von Tausenden und Abertausenden von Menschen, sei es durch Nachlässigkeit und/oder durch vorsätzliche Unterlassung durch die Bolsonaro-Regierung, als Völkermord bezeichnet. Frei Betto ist auch Berater der FAO und setzt sich für soziale Bewegungen ein. Seit Jahren kämpft er auf der Seite der Letzten.
Wenige Tage später verwendete auch Gilmar Mendes, Mitglied des Obersten Gerichtshofs, den gleichen Ausdruck: Völkermord! Er gab der Armee als einer Institution des Staates den Rat, sich von jeglicher Komplizenschaft bei der Ausführung zu distanzieren. Gegen ihn sind nun die Pfeile des Oberkommandos und der Militärminister gerichtet. Auch Frei Betto verwendet seit einigen Tagen in einem langen und schmerzerfüllten offenen Brief dasselbe Wort, und nicht nur: Ausdrücklich bittet er alle, diese Nachricht zu verbreiten, damit es die Welt weiß und sie uns hilft, dem Völkermord Einhalt zu gebieten, der unserem „querido e maravilhoso Brasil“ ganz unerwartet in den Rücken fällt.
BRIEF AN DIE FREUNDE UND FREUNDINNEN IM AUSLAND
In Brasilien ist ein Völkermord im Gang! Zum Zeitpunkt dieses Schreibens, 16.07., hat das Coronavirus, das hier im vergangenen Februar aufgetreten ist, bereits 76.000 Menschen das Leben gekostet. Fast zwei Millionen sind infiziert worden. Am kommenden Sonntag, den 19. Juli, wird die Zahl der Todesopfer 80.000 erreicht haben. Wahrscheinlich sind es schon 100.000, wenn du diesen dramatischen Aufruf liest.
Wenn ich daran denke, dass während des zwanzigjährigen Vietnamkrieges 58.000 amerikanische Soldaten das Leben lassen mussten, wird das Ausmaß des Geschehens in meinem Land deutlich. Diese Untat ruft Sorge und Empörung hervor. Wir alle wissen, dass die in vielen anderen Ländern getroffenen Vorsichts- und Einschränkungsmaßnahmen eine so hohe Sterblichkeit hätten vermeiden können.
Dieser Völkermord ist nicht der Gleichgültigkeit der Bolsonaro-Regierung zuzuschreiben. Er ist beabsichtigt. Bolsonaro begrüßt den Tod anderer. 1999 erklärte er als Bundesabgeordneter in einem Fernsehinterview: „Durch die Wahlen in diesem Land wird sich nichts, nichts, absolut nichts ändern! Es kann sich nur etwas ändern, wenn wir eines Tages einen Bürgerkrieg beginnen, um die Arbeit zu Ende zu führen, die das Militärregime nicht vollendet hat: mindestens 30.000 Menschen zu töten.“
Beim Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff widmete er seine Stimme dem bekanntesten Militärpeiniger: Oberst Brilhante Ustra. Der Tod fasziniert ihn dermaßen, dass die Liberalisierung des Waffen- und Munitionshandels eine seiner wichtigsten Regierungsarbeiten geworden ist. Auf die Frage vor dem Präsidentenpalast, wie er sich angesichts der Opfer der Corona-Krise fühle, antwortete er: „Ich glaube nicht an diese Angaben“ (27. März, 92 Tote); „Wir müssen alle eines Tages sterben“ (29. März, 136 Tote); „So? Was soll ich tun?“ (28. April, 5017 Tote).
Warum verfolgt Bolsonaro diese nekrophile Politik? Von Anfang an erklärte er: das Wichtigste sei nicht das Leben von Menschen, sondern die Wirtschaft zu retten. Daher seine Weigerung, den Lockdown anzuordnen, die Anweisungen der WHO zu beachten und Atmungsgeräte und Schutzausrüstungen einzuführen. Der Oberste Gerichtshof hat daraufhin diese Verantwortung den Gouverneuren der einzelnen Bundesstaaten und den Bürgermeistern der Städte übertragen.
Bolsonaro hat nicht einmal die Autorität seiner eigenen Gesundheitsminister respektiert. Seit Februar dieses Jahres sind in Brasilien zwei Gesundheitsminister entlassen worden, da sie sich geweigert hatten, sich die Haltung des Präsidenten zu eigen zu machen. Der neue Gesundheitsminister ist jetzt General Pazuello, der vom Gesundheitswesen nicht die geringste Ahnung hat. Er hat versucht, die Anzahl der Opfer zu verheimlichen; er hat sich mit 38 völlig unqualifizierten Soldaten umgeben und ihnen wichtige Funktionen anvertraut; er hat die tägliche Pressekonferenz abgeschafft, durch die die Bevölkerung wichtige Informationen und Anweisungen hätte erhalten können.
Es würde hier zu weit führen zu erwähnen, wie viele Maßnahmen abgelehnt worden sind, mit denen den Opfern und Familien mit niedrigem Einkommen hätte geholfen werden sollen (mehr als 100.000 Brasilianern). Die Gründe für die kriminellen Absichten der Bolsonaro-Regierung liegen auf der Hand: alte Menschen sterben zu lassen, um das Geld der Sozialversicherung zu sparen; Menschen mit Vorerkrankungen sterben zu lassen, um die Mittel des nationalen Gesundheitssystems (SUS) zu sparen; die Armen sterben zu lassen, um die Mittel der „Bolsa Família“ und anderer Sozialprogramme zu sparen, die für 52,5 Millionen Brasilianer bestimmt sind, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und für die 13,5 Millionen, die sich in äußerster Armut befinden (diese Angaben stammen von der Bundesregierung).
Und immer noch nicht zufrieden mit diesen tödlichen Maßnahmen, legte der Präsident in dem am 3. Juli genehmigten Gesetz ein Veto gegen den Artikel ein, der das Tragen von Masken in Geschäften, Kirchen und Schulen anordnete. Er verbot auch die Verhängung von Sanktionen und Geldstrafen gegen jeden, der die Regeln nicht einhält. Es verbot die Anordnung der Regierung, Masken an die Ärmsten und an die am meisten Gefährdeten, die hauptsächlichsten Opfer von Covid-19, und an die Gefangenen (750.000) zu verteilen. Diese Art von Veto hebt jedoch nicht die lokalen Gesetze auf, die das Tragen von Masken verpflichtend vorschreiben.
Am 8. Juli hat Bolsonaro einige bereits im Senat verabschiedete Gesetze aufgehoben, die die Regierung verpflichteten, Trinkwasser, Hygiene- und Reinigungsmittel, Zugang zum Internet, Lebensmittelpakete, Saatgut und Werkzeuge für die Arbeiten in der Landwirtschaft in den indigenen Dörfern bereitzustellen. Das Veto des Präsidenten erstreckte sich auch auf den gesundheitlichen Notfallfonds für diese Bevölkerungsgruppen und auf die dreimonatige Unterstützung von 600 Reais (rund 100 Euro).
Er verbot auch die Verordnung der Regierung, den Krankenhausaufenthalt, den Einsatz von Atem- und Sauerstoffgeräten für indigene Völker und die Bewohner der afro-brasilianischen Gemeinden „Quilombos“ zu gewährleisten. Die Eingeborenen und Bewohner der „Quilombos“ sind durch die zunehmenden sozio-ökologischen Verwüstungen, insbesondere im Amazonasgebiet, dezimiert worden.
Bitte macht dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitestgehend bekannt. Beschwerden darüber, was in Brasilien passiert, müssen an die Medien eurer Länder, an den Menschenrechtsrat der UNO, an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag sowie an Banken und Unternehmen, die Investoren in Gruppen zusammenfassen, was von der Bolsonaro-Regierung besonders gewünscht wird, gerichtet werden.
Lange vor dem The Economist spreche ich in meinen digitalen Netzwerken vom Präsidenten als BolsoNero (in Anspielung an Kaiser Nero), der Leier spielt, während die Stadt Rom in Flammen aufgeht, und für Chloroquine wirbt, ein Arzneimittel gegen das neue Coronavirus ohne wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis.Seine Hersteller sind politische Verbündete des Präsidenten…
Ich danke für euer solidarisches Interesse, diesen Brief zu verbreiten. Nur der Druck aus dem Ausland wird dem Völkermord Einhalt gebieten können, der unser „querido e maravilhoso“ Brasilien peinigt.
Mit brüderlichem Gruß,
Frei Betto
Quelle: Webseite pressenza; Übersetzung: Pater Alois Eder