Alarmierende Nachrichten aus Brasilien

Noch haben wir die Bilder, die im letzten Jahr um die Welt gingen, vor Augen: Riesige Flächen des tropischen Regenwaldes, die entlang der Straßen des Amazonasgebietes – wohl mit Duldung oder durch Anstiftung von Regierungskreisen – gezielt in Brand gesteckt wurden, um Acker und Weideland zu gewinnen. Die weltweiten Proteste aus den Kirchen und Umweltorganisationen, aber auch aus Wissenschaft und Politik fanden bei der brasilianischen Regierung kein Gehör. Noch konnte man den Ausbruch des Corona Virus nicht voraussehen, als die Amazonassynode, die im Oktober 2019 in Rom stattfand, von der Gefahr der Versuchung des Amazonasgebietes durch tödliche Krankheiten warnte (Schlussdokument n.10). Papst Franziskus hatte dann in seinem nachsynodalen Schreiben „Geliebtes Amazonien“ (n.12) am Beginn dieses Jahres die brutale Logik der Regierungspolitik entlarvt, als er sich in leidenschaftlicher Empörung dagegen wandte, die indigenen Völker als Hindernis für den Fortschritt zu betrachten, von dem sich die moderne Gesellschaft des Landes zu befreien hat.

Wahrnehmung in deutschen Medien

Diese menschenverachtende Politik steuert gegenwärtig in der politischen Radikalisierung unter Präsident Bolsonaro auf einen grausamen todbringenden Höhepunkt zu. Es ist beachtenswert, wie klar auch deutsche Medien diese Entwicklung benennen. So spricht das „Handelsblatt“ in der Ausgabe vom 4. Mai 2020 von einer katastrophalen Umweltpolitik des Präsidenten, die das Produkt jener Logik ist, mit der unter der Militärdiktatur vor 50 Jahren der Raubbau im Regenwald begann. Es ist die klare Absicht des Präsidenten und der Generäle, die zurzeit in seiner Regierung Schritt für Schritt die Macht in den Schlüsselpositionen übernehmen, die noch geltende Gesetzgebung dahin zu verändern, dass die Konzerne auch in den indigenen, durch die Verfassung geschützten, Gebieten nach Bodenschätzen schürfen oder Kraftwerke bauen können. Einen Freibrief für diese Besitzergreifung erwarten sich längst vor allem die Großgrundbesitzer.

Den Köpfen und Herzen der ausschließlich an unmittelbarem Profit ausgerichteten Interessen führender Eliten Brasiliens hat sich tief und nachhaltig eine Grundeinstellung eingeprägt, die man mit einem dem amerikanischen General Philip Henry Sheridan zugeschriebenen Ausspruch charakterisieren muss: „Nur ein toter Indianer ist guter Indianer“ – Offen werden diese zutiefst rassistische und mörderische Ideologie wahrscheinlich nur wenige aus dem Kreis derer zugeben, die seit Jahren eine veränderte Politik gegenüber den Indigenen fordern. Nicht nur der Präsident und die Generäle, sondern vor allem all jene, die in den nationalen und internationalen Konzernen und in der mächtigen Agrarlobby das Sagen haben, sind davon überzeugt, dass es einer gezielten Zurückdrängung und damit einer schrittweisen Dezimierung, ja in letzter Konsequenz einer Ausrottung der noch über dreihundert existierenden indigenen Völker und Gruppen braucht, damit die Wirtschaft sich ungehemmt ihrer Gebiete bemächtigen kann.

Unter dem Titel „Die Viren der Weißen“ berichtete kürzlich „Der Spiegel“ über die tödliche Gefahr, der die indigenen Völker Brasiliens vor dem Hintergrund dieser Regierungspolitik nun durch das sich rasant ausbreitende Corona Virus ausgesetzt ist. Der Bericht des Magazins beruft sich auf die Aussagen indigener Führungskräfte, die davon ausgehen, dass der Präsident und seine Auftraggeber COVID 19 als willkommenen Verbündeten betrachten, der sie der Durchsetzung ihrer Wirtschaftspolitik um ein gutes Stück näherbringt. Für Bolsonaro gehören die Ureinwohner der Vergangenheit an, die deshalb keine Zukunft haben dürfen, weil sie ein Hemmschuh für die ökonomische Entwicklung des Landes darstellen. Der Präsident hat sich – wohl bewusst gegen die Kirchen und die Menschenrechts- und Umweltorganisationen – dafür ausgesprochen, endlich mit der Verteidigung der Anliegen und Rechte der indigenen Völker Schluss zu machen. „Absurd, wie viele Reichtümer in ihrem Boden liegen!“. Mit dieser Aussage zitiert der „Spiegel“ den Präsidenten, der die „immensen Flächen“, die zum Beispiel die Yanomami besetzt halten, für den Bergbau und die Agrarindustrie öffnen und die im Boden liegenden Schätze „gemeinsam mit ein paar Konzernen aus der Ersten Welt“ heben will.

Qualvolle Erinnerungen an tödliche Seuchen

Die wachsende Zahl von Infizierten aus ihren eigenen Reihen weckt nicht nur unter dem Volk der Yanomami, sondern unter allen Indigenen traumatische Erinnerungen an frühere Epidemien, die viele Stämme drastisch dezimiert und teilweise vollständig ausgerottet hatten. Einen alten über achtzigjährigen italienischen Missionar, so weiß der „Spiegel“ zu berichten, würden noch heute im Traum schreckliche Bilder aus der Zeit der „Erschließung“ des Stammesgebietes durch den Bau der „Transamazonica“ verfolgen, als Tausende Yanomami der von den Arbeitern eingeschleppten Grippe, den Masern und der Tuberkulose zum Opfer fielen und ganze Dörfer in den Busch flohen, um sich vor den Invasoren zu schützen. Als zu Beginn der 1990er Jahre viele der indigenen Gebiete offiziell demarkiert wurden, mussten Goldgräber und andere Invasoren mit Kontrollen und Strafen rechnen. Mit der nun durch die Regierung verfolgten Politik ist die Zahl der Eindringlinge wieder sprunghaft angestiegen und damit auch die akute Gefahr der Infizierung. In dramatischen Appellen weisen die Anführer der indigenen Völker darauf hin, dass die Immunsysteme ihrer Stammesangehörigen den Viren der Weißen schutzlos ausgeliefert sind. Sie fordern die Indianerschutzbehörde dazu auf, den Goldgräbern und Holzfällern, die sich vielerorts ganz in der Nähe der Dörfer eingenistet haben, ab sofort den Aufenthalt in den indigenen Gebieten zu verbieten.

Es ist ein Kampf von David gegen Goliath, der auch deshalb nicht verloren erscheint, weil er in den letzten Jahrzehnten zu einer Solidarisierung unter und mit den indigenen Völkern geführt hat.

Hilferufe vor einem sich anbahnenden Genozid

„Wir befinden uns am Vorabend eines Völkermordes“. Mit dieser Schlagzeile hat vor einigen Tagen die renommierte britische Zeitung „The Guardian“ von einem offenen Brief des bekannten Photographen und Journalisten Sebastião Salgado an den brasilianischen Präsidenten berichtet, der von vielen weltbekannten Persönlichkeiten unterschrieben wurde. Die Unterzeichner verweisen auf die todbringenden Epidemien in der tragischen Unterdrückungsgeschichte der indigenen Völker und fordern von der Regierung die sofortige Ausweisung aller Invasoren. Salgado fordert eine bewaffnete Truppe zum Schutz der indigenen Gebiete und zeigt sich davon überzeugt, dass die brasilianische Regierung nur auf internationalen Druck reagieren würde. Ob sie das ohne drastische wirtschaftliche Sanktionen der führenden Industrienationen erreichen, mit denen in der gegenwärtigen weltweiten ökonomischen Krisensituation wohl kaum zu rechnen ist, erscheint mehr als fragwürdig.

Umso überlebenswichtiger ist der Widerstand, der in dieser akuten Bedrohung durch das Corona Virus von den indigenen Völkern selbst ausgeht, die sich der tödlichen Gefahr voll und ganz bewusst sind: „Wir vom Stamm der Kokama sind jeden Tag mit Todesfällen konfrontiert. Wir sind voll Angst und Verzweiflung und empört über die Tatenlosigkeit … der öffentlichen Stellen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene, wobei die Behörden auf der untersten Ebene alles versuchen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen“, schreiben die Vertreter dieses indigenen Volkes, das im Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien aufgrund der Mobilität dieser Region der Ansteckung fast schutzlos ausgesetzt ist. Es sind erschütternde Hilferufe, die das „CIMI“, der „Missionsrat für die indigenen Völker“, ein offizielles Organ der Brasilianischen Bischofskonferenz, auf seiner Homepage regelmäßig der Weltöffentlichkeit zugänglich macht. In der Region rund um die Amazonasmetropole Tabatinga bittet eine Gruppe von Indigenen um eine eigene Parzelle im Friedhof, damit sie dort ihre Toten – wenn schon nicht daheim in den Dörfern, so doch ihren alten religiösen Gebräuchen gemäß – würdevoll betrauern und bestatten kann.

Ein Kampf von David gegen Goliath

Immer wieder haben sich in den letzten Wochen Führungskräfte einzelner indigener Gruppen nicht nur im Amazonasgebiet, sondern auch in Zentral- und Südbrasilien an die zuständigen Behörden gewandt und Maßnahmen zum Schutz ihrer Bevölkerung gefordert. Sie haben Straßensperren errichtet, um Touristen und Händlern den Zugang zu ihren Dörfern zu verwehren. Besonders gefährdet sind aber die Gruppen der Indigenen, die bereits in den großen Städten wie Manaus oder Belem unter oft menschenunwürdigen Umständen leben müssen. Der Überlebenskampf von indigenen Minderheiten, die gesellschafts-und wirtschaftspolitisch gezielt zu einer Randexistenz oder zum Verschwinden verurteilt werden, hat eine lange Geschichte und ist deshalb so beeindruckend, weil er im tiefsten Ausdruck einer „Spiritualität“ des religiösen Widerstands ist. Es ist ein Kampf von David gegen Goliath, der auch deshalb nicht verloren erscheint, weil er in den letzten Jahrzehnten zu einer Solidarisierung unter und mit den indigenen Völkern geführt hat.

Solidarisierung und Lobby-Arbeit

Gemeinsam mit den offiziellen Vertretern der indigenen Völker und anderen Nichtregierungsorganisationen wird seit Jahrzehnten und aktuell in verstärktem Maß auf verschiedenen Ebenen eine Lobbyarbeit geleistet, die internationale Beachtung findet. So haben sich Vertreter des „CIMI“ vor kurzem direkt auch an den Menschenrechtsrat der UNO gewandt und einmal mehr auf die permanente Verletzung der Rechte der indigenen Völker durch die brasilianische Regierung aufmerksam gemacht.

Seit 16 Jahren treffen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Indigenen und der verschiedenen Organisationen, die sich für deren Lebensrechte einsetzen, in der Hauptstadt Brasilia zu einer nationalen Versammlung, einem „Camp“, dessen Beratungen heuer Ende April nur virtuell erfolgen konnten und das diesmal vor allem der Bewältigung der Corona Krise gewidmet war. „Wir sind Opfer eines geplanten Völkermordes der gegenwärtigen Regierung“, heißt es im Schlussdokument, in der im Einzelnen die katastrophalen Folgen der Veränderungen in der bisherigen Gesetzgebung zum Schutz der Indigenen im Einzelnen benannt werden. „Es scheint, dass die Regierung Bolsonaro es als Ehrensache betrachtet, die Indigenen auszurotten“.

Eine solche Feststellung ist keine Übertreibung, sondern letztlich das erklärte Ziel der Regierung. Das Schlussdokument der Versammlung fordert von den Behörden, in der bedrohlichen Lage vor allem den Zugang stammesfremder Personen, konkret das Eindringen von Goldgräbern, Holzfällern und Händlern in die Dörfer zu unterbinden. Die Forderung, dass auch fundamentalistische religiöse Gruppen von diesem Verbot betroffen sein sollen, hat gute Gründe. Einige pentekostale Kirchen [Pfingstkirchen] vertreten fanatisch und vehement die Politik der Regierung. Für sie sind die Kulturen und religiösen Gebräuche der Indigenen Ausdruck dämonischer Mächte, die es zu bekämpfen und zu vernichten gilt.

Bischöfe ergreifen Partei

Am 4. Mai haben sich zuletzt 58 katholische Bischöfe und 2 Diözesanadministratoren mit einer aufsehenerregenden Stellungnahme an die nationale und internationale Öffentlichkeit gewandt: „Wir Bischöfe der (brasilianischen) Amazonasregion möchten angesichts der unkontrollierten Ausbreitung von COVID 19 unsere immense Sorge zum Ausdruck bringen. Wir fordern von der Bundesregierung und von den Landesregierungen, dass sie der Krankheit … eine größere Beachtung schenkt. Die Völker Amazoniens verlangen von den Behörden, dass ihre Grundrechte nicht noch mehr verletzt werden“ – Die Bischöfe verweisen auf die hohe Sterblichkeitsrate in der Region und auf den Zusammenbruch des Gesundheitssystems, besonders in den großen Städten Manaus und Belem. Viele Menschen haben keine Chance auf einen Corona Test und auf eine medizinische Behandlung in einem Krankenhaus. Sie sterben daheim – und stecken ihre eigenen Angehörigen an. Die Bischöfe befürchten, dass auf die schon bedrohliche ökologische Krise nun eine gewaltige humane Katastrophe folgt, in der weitere Epidemien nicht ausgeschlossen werden können.

Mit drastischen Worten hat der Vorstand der gesamtbrasilianischen Bischofskonferenz am 30. April vor einer „Rückkehr des Landes in die dunklen Zeiten der Diktatur“ gewarnt. Der Aufruf weckt die Erinnerung an eine gegenteilige folgenschwere bischöfliche Fehleinschätzung: Im Jahre 1964 hatte damals ein Teil des katholischen Episkopats den Militärputsch als „Eingreifen der göttlichen Vorsehung gegen den Kommunismus“ begrüßt. Die Bischöfe wenden sich in der aktuellen Situation jetzt ganz entschieden gegen die Politik der Regierung. Sie sehen in der Schließung des Nationalkongresses und des Obersten Gerichtshofes einen Angriff auf die Verfassung und verurteilen die Aussagen von Politikern über den Tod tausender Brasilianer an COVID 19 als abwegig und menschenverachtend. Sie fordern von der Regierung in einer Phase des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems eine Politik der Prävention und Bekämpfung des Virus „zum Schutz des Lebens, insbesondere der Ärmsten und Verletzlichsten“.

Der Präsident ist nicht mehr tragbar

Der Nationalrat der christlichen Kirchen Brasiliens, dem neben der katholischen Kirche auch Lutheraner, Orthodoxe und Anglikaner angehören, hatte kurz davor gemeinsam mit der Kommission „Justitia et Pax“ die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Bolsonaro gefordert. Dass der Präsident kurz zuvor selbst an einer Demonstration teilgenommen hatte, in der ein Militärputsch gefordert wurde, sei für alle demokratischen Kräfte im Land Grund genug, ihn aus seinem Amt zu entfernen.

Wenn die Kirchen in dieser höchst kritischen Situation dem Präsidenten und der Regierung so klar und entschieden die Stirn bieten, dann tun sie das ohne Zweifel in erster Linie in großer Sorge um Millionen von Menschen, deren Recht auf ein menschenwürdiges Leben schon vor der Corona Krise von verantwortungslosen Politikern und profitgierigen Ausbeutern mit Füßen getreten wurde, und die nun weithin schutzlos zum Tod verurteilt werden.

Mit vielen anderen im Land ist P. Dario der Meinung, der Präsident schaffe mit Absicht dieses Chaos und benütze die Pandemie, um sich selbst um jeden Preis an der Macht zu halten.

Wir Comboni-Missionare

arbeiten seit einigen Jahren in vier Bundesstaaten der brasilianischen Amazonasregion. Es ist eine bescheidene aber engagierte Präsenz bei den Armen, unter indigenen Gruppen, Afrobrasilianern und unter den Kleinbauern und Siedlern an den Ufern der Flüsse und unter anderem auch an der Peripherie von Manaus, wo auch P. Karl Peinhopf im Einsatz war.

P. Dario Bossi, der Leiter unserer brasilianischen Provinz, von dem wir aus telefonischen Kontakten wissen, dass unsere Mitbrüder dort Gott sei Dank bis jetzt noch gesund sind, beschreibt auf unserer italienischen Homepage die politisch äußerst gespannte Situation im Land. P. Dario weiß, wovon er redet. Er war selbst in sehr schwieriger Mission im Amazonasgebiet tätig: „Das Verhalten von Bolsonaro ist unerträglich. In seiner politischen Unfähigkeit, der Corona Pandemie mit strukturellen Maßnahmen zu begegnen, macht er uns in der ganzen Welt lächerlich.“ Mit vielen anderen im Land ist P. Dario der Meinung, der Präsident schaffe mit Absicht dieses Chaos und benütze die Pandemie, um sich selbst um jeden Preis an der Macht zu halten.

Doch anscheinend beginnt sich das Blatt zu wenden und der Widerstand gegen Bolsonaro wächst auch bei den Gouverneuren der Bundesstaaten und in vielen Sektoren der Gesellschaft. Steuert Brasilien aber trotzdem wieder auf eine Militärdiktatur zu? Indes gehen die Bilder von Massengräbern am Stadtrand von Manaus, in denen die Opfer der Pandemie von Baggern verscharrt werden, um die Welt und erschüttern viele Menschen. Es ist gut, dass vor allem auch die Kirchen denen eine Stimme geben, deren verzweifelte Hilferufe von den Machthabern nicht gehört werden. Die Corona Pandemie, die auch in Ländern der Ersten Welt Politik, Medizin und Wissenschaft vor große Herausforderungen stellt, bringt in armen und zugleich reichen Ländern wie Brasilien noch deutlicher brutale Machenschaften einer Politik und Ökonomie zum Vorschein, die man ohne Wenn und Aber als „Todsünden“ benennen muss, weil sie besonders die, die dem Fortschritt im Wege stehen und wie Rest- und Problemmüll „entsorgt“ werden müssen, zum Tod verurteilt.

P. Franz Weber