Während sich in Europa die Coronavirus-Situation weiter entspannt, hat sich der „Hotspot“ der Pandemie auf Südamerika verlagert. Peru ist besonders stark betroffen: Das Gesundheitssystem ist kollabiert, der Alltag ein „Drama“, erzählt Pater Juan Goicochea Mitte Juni in einem Telefoninterview mit Kathpress. Goicochea hat in Innsbruck studiert, war dann Obdachlosenseelsorger in Nürnberg und wird in seiner Tätigkeit in Peru auch von Initiativen in Österreich unterstützt.
Wie für viele Länder des globalen Südens gilt auch für Peru: „Die offiziellen Coronavirus-Angaben zeigen nicht die Realität der Pandemie“, betonte P. Goicochea. Dabei ist der Andenstaat mit genau 200.000 bestätigten Erkrankungen – die Hälfte davon aktiv – und 5.000 Toten das zahlenmäßig am achtmeisten von Covid-19 betroffene Land, vergleichbar mit Italien und Frankreich. Schätzungen zufolge beträgt die tatsächliche Fallzahl jedoch das Zwei- bis Dreifache der Statistik, da zu wenige Tests durchgeführt und Symptome oft nicht gemeldet werden.
Wird man aufgenommen, so endet alle Kommunikation nach außen.
In Lima ist das Gesundheitswesen bereits zusammengebrochen: Betten auf Intensivstationen gelten als „unerreichbares Luxusgut“, und viele Patienten seien in den Warteschlangen vor den Krankenhäusern schon gestorben, berichtete P. Goicochea, der selbst schon öfters Covid-19-Erkrankte aus seiner Pfarrei mit dem Pickup dorthin chauffiert hat. Öffentliche Krankenhäuser gelten bei den Menschen als Hochrisikozone, welche viele meiden: „Wird man aufgenommen, so endet alle Kommunikation nach außen. Oft erhalten Angehörige dann Tage später nur noch eine telefonische Todesnachricht oder die Asche überreicht“, schilderte der Priester.
Sauerstoff ist die Währung, um die sich in Peru derzeit alles drehe, sagte der peruanische Ordensmann, der zugleich eine „ungeheure Geschäftemacherei“ anprangerte. „Ein Sauerstofftank kostet derzeit bis zu 6.000 Peruanische Sol (1.548 Euro), eine Nachfüllung 500 Sol (130 Euro) – mehr als das Fünffache des Normalpreises.“ Überall in Lima suchten Menschen nach dem oft über Leben und Tod entscheidenden Gas für erkrankte Angehörige. Auch die meisten anderen Medikamente würden derzeit völlig überteuert verkauft. Um die verzweifelten Betroffenen zu versorgen, würden derzeit immer mehr Pfarreien selbst Sauerstoff produzieren, und auch er selbst plane dies, sagte P. Goicochea.
Kirchliche Hilfsinitiativen
Peru habe rechtzeitig Maßnahmen wie etwa die seit 16. März andauernde Ausgangssperre gesetzt und damit „viele Menschenleben gerettet“, lobte der Priester ausdrücklich Präsident Martin Vizcarra. Viel wirksamer wäre die Regierung laut seinem Befinden jedoch, würde sie mit der Kirche und deren Initiativen zusammenarbeiten. „Die Pfarreien kennen die Menschen, und die Hilfe der Caritas kommt garantiert bei denen an, die in Not sind. Dadurch, dass man die Kirche nicht als Partner behandelt hat, ging viel Potenzial verloren, und viel Geld ist in der Korruption versickert.“
Ein großer Teil der Bevölkerung sei auf Hilfsinitiativen verschiedenster Art angewiesen, um die Pandemie und deren Begleiterscheinungen des noch bis Ende Juni angesetzten Lockdowns durchzustehen. „72 Prozent der Menschen leben von Tag zu Tag und haben nichts zu essen, wenn sie nicht arbeiten. Viele von ihnen halten die Quarantäne nicht mehr aus und sagen sich: Lieber sterbe ich am Virus, als dass meine Familie verhungert“, erklärte Goicochea. Die kirchlichen Pfarrgemeinden hätten darauf reagiert und würden derzeit Lebensmittelpakete an die am meisten von Not Betroffenen verteilen.
In P. Goicocheas Pfarrei „Cristo Misionero del Padre“ in Chorrillos, einer Vorstadt von Lima, bewähren sich aktuell die schon vor der Krise aufgebauten Strukturen: Eigene Koordinatoren für Migranten, Flüchtlinge aus Venezuela, Kranke und für von extremer Armut Betroffene erstellen Listen von Menschen, die bei Verfügbarkeit von Lebensmittelpaketen – angekauft mit Spenden aus Europa für umgerechnet zehn Euro und von eigenen Teams vorbereitet – angerufen werden, um diese abzuholen, um Massenaufläufe zu verhindern. Bereits 3.000 Familien seien bisher durch diese Hilfsleistungen erreicht worden, berichtete der Ordenspriester.
Spirituelle Krise
Da derzeit das Überleben im Vordergrund steht, würden ethische, spirituelle und psychologische Pandemie-Folgen verdrängt, mahnte Goicochea. Als Priester sei er derzeit „gefordert wie nie zuvor“. Abseits der Facebook-Gottesdienste sei er ständig unterwegs und besuche von frühmorgens bis spätabends mit Maske, Handschuhen und Sicherheitsdistanz Menschen in ihren Häusern, um Seelsorgegespräche zu führen, gemeinsam zu beten und Krankensalbung, Kommunion und Trost zu spenden. „Es scheint, als ob viele Menschen auf den Priester warten, um zu sterben“, so sein Eindruck. Das Sterben ohne Abschied und Begräbnis – weniger der Tod selbst – sei ein „Trauma“, das Auflösung brauche.
Erstmals kann man in Lima derzeit nachts Mond und Sterne sehen, und in den Flüssen kommen die Fische zurück.
Zugleich sei die Pandemie aber auch ein „Atemholen der Erde“ und rege Nachdenkprozesse an, befand Goicochea, der u.a. mit seinem bereits in mehrere Sprachen übersetzten Schulbuch „Kinder, diese Erde liegt in euren Händen“ einen Schwerpunkt auf ganzheitliche ökologische Bildung gelegt hat. „Erstmals kann man in Lima derzeit nachts Mond und Sterne sehen, und in den Flüssen kommen die Fische zurück. Die Pandemie erinnert uns an verlorene Werte, die wir neu finden müssen, und führt uns Probleme – wie etwa über Jahrzehnte verabsäumte Investitionen in Gesundheit, Umwelt und Bildung – vor Augen.“ Das von Papst Franziskus soeben ausgerufene „Laudato-Sì-Jahr“ komme hier gerade recht.
Trotz der Grenzschließungen habe die Pandemie die Welt enger aneinanderrücken lassen, so die Beobachtung des Comboni-Missionars. Die Entwicklung in Europa mit seinen sinkenden Infizierten-Zahlen werde in Peru mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. „Europa bedeutet für uns Hoffnung, dass es einen Weg heraus gibt und die Krise wieder vorbeigehen wird.“
Quelle: Kathpress