Der 6. Februar ist der internationale Aktionstag gegen weibliche Genitalverstümmelung, weltweit unter dem englischen Begriff FGM=Female Genital Mutilation bekannt. Mit vielen Beiträgen und Aktionen wird an diesem Tag auf diese gravierende Menschenrechtsverletzung aufmerksam gemacht. Inzwischen gibt es einige Initiativen, die mit ihrer Aufklärungsarbeit in betroffenen Ländern ein Umdenken in der Bevölkerung erzielen. Darunter ist auch die NGO-Organisation AMREF (African Medical and Research Foundation), 1963 in Afrika mit dem Ziel gegründet, durch die Stärkung lokaler Strukturen die allgemeine Gesundheitsversorgung zu verbessern.

Als sie acht Jahre alt war, weigerte sich die Kenianerin Nice Nailantel Leng’ete, die weibliche Genitalverstümmelung (Beschneidung) an sich vornehmen zu lassen. Es handelt sich hier um einen alten Brauch bei den Massai. 20 Jahre später wurde Nice Mitwirkende und Botschafterin der AMREF HEALTH AFRICA. Der Redakteur der Comboni-Zeitschrift Mundo Negro Javier Sanchez Salcedo sprach mit ihr bei einem Aufenthalt in Madrid:

Welche Bedeutung hat FGM in den Kulturen, in denen sie praktiziert wird?

Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Gründe für die Beschneidung der Frauen. In meiner Kultur der Massai wird sie in der Zeit zwischen Pubertät und Übergang ins Erwachsenenalter durchgeführt. Mit anderen Worten, wenn du dich nicht beschneiden lässt, wirst du nie als echte Frau betrachtet und bist nicht in der Lage zu heiraten. Das ist der Grund, warum du dich in der Zeit zwischen sieben und vierzehn Jahren beschneiden lassen musst. Danach bist du bereit, einem Mann als Frau gegeben zu werden, der in der Regel nicht der Mann deiner Wahl sein wird. In Zusammenarbeit mit Amref Health Africa setzen wir uns bei der Bevölkerung vor Ort für die Abschaffung dieser unmenschlichen Praxis ein. Und das nicht nur beim Stamm der Massai, sondern auch der Borana und anderen Ethnien in Kenia, Tansania, Senegal und Äthiopien. In einigen Ethnien hat der Ritus der Beschneidung nichts mit der Wende von der Jugend zum Erwachsenwerden zu tun. Man vollzieht sie aus Gründen der Hygiene oder der Reinheit. In anderen Kulturen denkt man, wenn man die Klitoris nicht abschneidet, würde sie wachsen und größer werden. Das sei der Grund der Beschneidung.

Was geschieht, wenn sich ein Mädchen weigert, sich beschneiden zu lassen?

Bei den Massai ist die Weigerung der Beschneidung ein Tabu. Es ist nicht erlaubt, sie zu verweigern. Sie sagen dir, dass kein Mann bereit wäre, dich zu heiraten. Außerdem sei es eine Respektlosigkeit gegenüber deiner Kultur und der eigenen Familie. Sie würden dich verstoßen.

Du jedoch hast dich geweigert. Wie hast du das fertiggebracht?

Als ich acht Jahre alt war, starben meine Eltern und so musste ich zu meiner Großmutter gehen. Ich konnte die Beschneidung bei anderen Mädchen und meinen Freundinnen miterleben. Danach verließen sie die Schule, um zu heiraten. Das ist einer der Gründe meiner Verweigerung. Ich wollte meine Schulbildung nicht aufgeben und die Braut von irgendjemand werden. Ich hatte das Glück, in ein Internat aufgenommen zu werden. Dort lebte ich mit Mädchen anderer Ethnien zusammen, die sich nicht beschneiden lassen mussten. Das war eine Entdeckung für mich. Denn in meinem Dorf waren alle Frauen beschnitten einschließlich meiner Mutter und Großmutter. Das war das Leben, das ich kannte. Viele Leute haben mir gesagt: Wenn du dich nicht beschneiden lässt, wirst du keine Kinder bekommen können. Oder dass bei der Geburt meine Kinder und ich sterben würden. In der Schule aber lernte ich Caroline kennen, eine Lehrerin, die mir klipp und klar sagte, dass das alles nicht stimme. Sie erklärte mir: „Ich bin eine Frau und habe Kinder und bin nie beschnitten worden“.

Was hat dir deine Familie gesagt?

Wenn ich mich nicht beschneiden lasse, könnte ich nicht unter dem gleichen Dach mit ihnen wohnen. Sie planten den Ritus der Beschneidung für meine Schwester, drei meiner Cousinen und für mich. Zwei Nächte lang musste ich außer Haus schlafen. Dann musste ich mich mit kaltem Wasser duschen, das als Betäubungsmittel dienen sollte. Während der Beschneidung durfte man weder weinen noch einen Muskel bewegen. Wenn Du es tätest, würdest du für feige erklärt und kein Mann würde dich zur Frau nehmen. Wir entschlossen uns, zu fliehen. In der Zeit zwischen meiner Dusche und der meiner Schwester rannten wir los. Wir versteckten uns auf einem Baum, auf den wir geklettert waren. Wir blieben eine Woche lang versteckt. Dann entdeckten sie uns. Sie verprügelten uns und wir mussten versprechen, nie wieder zu fliehen. Aber als erneut die Beschneidung vorbereitet wurde, entschloss ich mich, doch zu fliehen. Dieses Mal allerdings ohne meine Schwester. Sie war etwas älter als ich. Sie dachte, es wäre leichter, dass sie mich gehen ließen, um meine Schulausbildung fortzuführen. Sie akzeptierte, beschnitten zu werden, verließ die Schule und heiratete. Ich machte mich aus dem Staub. Caroline bot mir eine sichere Unterkunft an, in der ich eine Zeit lang blieb. Als ich zurückkehrte, sprach ich mit meinem Großvater und bat ihn, mich mein Leben selber gestalten zu lassen. Wenn sie mich zwingen würden, würde ich für immer davonlaufen. Er merkte, dass ich zu allem entschlossen war. Er versammelte die ganze Familie, um ihnen zu sagen, dass sie mich gehen lassen sollten.

In Kenia ist es verboten, die weibliche Beschneidung vorzunehmen. Was für Schwierigkeiten gibt es, das Gesetz auch anzuwenden?

Wir haben das Gesetz Nr. 2011, das FGM verbietet. In fast allen Ländern Afrikas gibt es ähnliche Gesetze, aber das Gesetz genügt noch nicht, um die FGM abzuschaffen. Denn es ist ein heikles kulturelles Thema. Wir brauchen eine kulturelle Lösung. Wir reden vom Wandel unseres Verhaltens, unserer Mentalität und unserer Bräuche. Gewalt anzuwenden bringt nichts, man würde nur mit der Gesellschaft in Konflikt geraten, und die würde doch Wege finden, derartige Gebräuche im Verborgenen zu praktizieren. Es gibt in Kenia Leute, die bringen ihre Töchter nach Tansania oder Äthiopien, um dort die Beschneidung vornehmen zu lassen, weil die Gesetze dort nicht so streng sind. Selbst an Minderjährigen von fünf Jahren wird die Beschneidung vorgenommen. Kinder in diesem Alter haben aber noch keine Ahnung, was da mit ihnen geschieht. Das Gesetz ist gegen die lokale Kultur und die Leute schauen, wie sie das Gesetz umgehen können und tun das, was sie schon immer getan haben.

Also sind die Gesetze unnütz?

Es ist ganz wichtig, dass wir sie haben. Wir erheben die Stimme gegen Beschneidung und Verheiratung von Kindern, weil das Gesetz auf unserer Seite steht.  Nach der Beschneidung verlassen die Mädchen die Schule. Ohne einen ordentlichen Schulabschluss werden sie nie die gleichen Rechte haben wie die Männer. Wir sprechen mit allen Verantwortlichen der Gesellschaft, mit den Vätern und Müttern, den Jungen und Mädchen.

Auch mit den Politikern?

Ohne sie können wir den Kampf nicht gewinnen. Die Politiker befürchten Stimmenverlust, wenn sie sich gegen lokale kulturelle Praktiken äußern. Aber wir haben inzwischen einige Anführer gesehen, die FGM angeprangert haben. Vor wenigen Monaten hat sich unser Präsident Uhuru Kenyatta öffentlich geäußert, FGM ein für alle Mal abzuschaffen. Als endgültigen Termin setzte er das Jahr 2022 fest. Es ist das erste Mal, dass er öffentlich dazu Stellung bezogen hat. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn. Sicherlich werden ihm weitere Politiker folgen.

Um eine kulturelle Tradition zu verändern, braucht man vor allem einen hohen Respekt vor dieser Kultur.

Was ist nach deiner Erfahrung der beste Weg, eine Tradition zu verändern?

Um eine kulturelle Tradition zu verändern, braucht man vor allem einen hohen Respekt vor dieser Kultur. Ohne Respekt wird niemand auf dich hören. Man kann nicht einfach hingehen und sie beschuldigen. Sie haben ihre Gründe für das, was sie tun. Zweitens braucht man viel Geduld. Es ist unmöglich, die Kultur von einem Tag auf den anderen zu verändern. Nicht einmal in einem Jahr. Es braucht Zeit. Und wenn man nicht geduldig ist, wird man während des Prozesses bald aufgeben. Und drittens: Man sollte weniger reden, sondern den Einheimischen die Möglichkeit geben, sich zu äußern. Obwohl die älteren Menschen nicht in die Schule gegangen sind, leben sie länger vor Ort und besitzen größere Erfahrung und wissen Dinge, die man selbst nicht weiß. In einem zweiten Schritt können wir sie wissen lassen, dass auch wir etwas zum Anbieten haben. Wir werden ihnen keinen Mathematik-Unterricht geben. Es handelt sich um eine sehr sensible Frage. Man muss also miteinander sprechen und versuchen, zu einem Konsens zu kommen. Und all das kann eine einzige Person nicht leisten. Wir brauchen Verbündete und müssen Brücken bauen zu den Führungskräften vor Ort und den Vertretern der Regierungen. Es gibt drei Millionen Mädchen, die jedes Jahr in Gefahr sind, FGM zu erleiden. Und das bedeutet eine Menge Arbeit. Um Erfolg zu haben, brauchen wir viele Hände.

Bei der AMREF schlagt ihr einen alternativen Ritus ohne Beschneidung vor. Worin besteht er?

Der alternative Ritus legt den Akzent auf die positiven Traditionen. Wie zum Beispiel Gesang, Tanz, Gemeinschaft. All das ist gut und muss beibehalten werden. Das einzige, was negativ ist, ist die physische Beschneidung. Wir schlagen verschiedene Foren des Dialogs vor: die Mütter mit ihren Töchtern, die Väter mit den Söhnen. Sie alle sprechen über den neuen Vorschlag. Sie setzen sich auch zusammen, um sich auf der einen Seite mit den lokalen Führungskräften auszutauschen und auf der anderen Seite mit den Frauen, die die Beschneidungen vornehmen. Sie sprechen über Gesundheitsfragen und Rechte, über Beschneidung und Verheiratung von Kindern. Es handelt sich um eine Zeit von zwei, drei bis vier Jahren, bis die Gesellschaft bereit ist zu einem Wandel. Nach drei Tagen der Vorbereitung der Mädchen ist die Nacht der Kerzen ein wichtiger Teil der Feier. Es ist eine liturgische Vigilfeier, in der die jungen Mädchen ihre Talente und Fähigkeiten unter Beweis stellen können. In dieser Nacht der Kerzen wird ihnen vermittelt, dass die ganze Gemeinde mit ihnen ist. Die Gemeinde kleidet sich in die schönsten traditionellen Gewänder, um die Mädchen zu empfangen. Väter, Mütter, Großeltern feiern mit. Auch Politiker sind anwesend. Es ist ein wunderbares Erlebnis ohne die Schmerzen der Beschneidung. Bei dieser Feier ist die Ausbildung in der Schule der Eckstein. Früher haben die Älteren die Jugendlichen gesegnet und ihnen Fruchtbarkeit gewünscht, jetzt aber geschieht der Segenswunsch in Form von Büchern, damit sie damit wachsen können durch Schulbildung, so dass sie eines Tages selber Lehrerinnen, Rechtsanwältinnen und Ärztinnen werden können.

Der alternative Ritus legt den Akzent auf die positiven Traditionen. Wie zum Beispiel Gesang, Tanz, Gemeinschaft. All das ist gut und muss beibehalten werden. In Kenia und Tansania waren wir in der Lage, 17.000 Mädchen mit dieser Alternative ohne Beschneidung einzuführen.

Wie viele Jugendliche haben diese Alternative schon mitgemacht?

In Kenia und Tansania waren wir in der Lage, 17.000 Mädchen mit dieser Alternative ohne Beschneidung einzuführen. Sie haben den neuen Ritus ohne Beschneidung gern angenommen. Wir möchten diese Methode auch in anderen Gemeinden einführen. Es ist ein großer Erfolg, wenn wir in die Schulen gehen und feststellen, dass das Zahlenverhältnis zwischen Jungen und Mädchen bei 50 Prozent liegt.

Wann denkst du, dass FGM völlig abgeschafft sein wird?

Meine Hoffnung richtet sich auf 2030. Idealer wäre es allerdings, wenn es früher geschehen könnte. Ich habe erlebt, wie Träume vieler meiner Freundinnen wie Seifenblasen zerplatzten, die heute sechs oder sieben Kinder haben. Sie können wir nicht mehr gewinnen, aber vielleicht können wir wenigstens ihre Kinder retten. Es gibt keine Entschuldigung, dass ein Kind stirbt oder die Schule verlässt wegen dieser grausamen Praxis. Viele Menschen inspirieren mich und geben mir Kraft, in diesem Bereich weiter zu arbeiten, vor allem sind es die 17.000 Mädchen, die eine andere Erziehung erhalten haben. Und die eines Tages verantwortungsvolle Aufgaben in ihrem Land übernehmen werden.

Javier Sanchez Salcedo, Mundo Negro
Übersetzung: Georg Klose mccj