Am 12. Oktober 2017 starb in Herrenberg mit 61 Jahren unser ehemaliger Mitbruder und Leiter der Bubenstadt in Esmeraldas, Hans-Peter Bürkle. Sein Tod ging vielen, die ihn näher gekannt haben, auch Schülern und Mitarbeitern, sehr nahe. Hans-Peter stammte aus Rohrdorf bei Nagold und hatte in der Schreinerei seines Vaters das Schreinerhandwerk gelernt und die Meisterprüfung gemacht. Mit 22 Jahren trat er als Brudermissionar bei den Comboni-Missionaren ein. Von 1984 bis 1994 war er in der Bubenstadt in Esmeraldas und war mehrere Jahre deren Leiter.

Die Bubenstadt ist eine Gründung der Combonis in Esmeraldas, eine Grund- und berufsbildende Oberschule für Schüler meist aus der untersten sozialen Schicht in Esmeraldas. Damals hatte sie noch ein Internat mit knapp hundert Schülern im Alter von zwölf bis 18 Jahren. Inzwischen ist sie umgezogen mitten in ein Armenviertel, jetzt aber ohne Internat. Die Schüler waren und sind zumeist Afroecuadorianer, das heißt, Nachkommen von schwarzen Sklaven, die im 16. und 17. Jahrhundert ins Land gebracht wurden. Hans-Peter war ein Mann, der sich schon von seiner körperlichen Größe her in Schule und Internat Respekt zu verschaffen wusste, den die Jungs aber nicht fürchteten, zu dem sie Vertrauen hatten.

Leben und arbeiten in Esmeraldas – und in der CIMU im Besonderen – ist eine Herausforderung besonderer Art, besonders wenn man aus einem so geordneten und durchorganisierten Land wie Deutschland kommt. Das Chaos scheint hier vorprogrammiert. Man muss wissen: Die schwarze Bevölkerung von Esmeraldas hat einen besonderen Hintergrund. Um ihn zu verstehen, ein kleiner geschichtlicher Exkurs:

Es gab in Esmeraldas vor Jahrhunderten keine Haciendas mit schwarzen Arbeitskräften. Die schwarze Bevölkerung stammt vielmehr von geflohenen Sklaven ab. Nach der Überlieferung kam die erste Gruppe im 16. Jahrhundert von einem Schiff, das sie nach Lima bringen sollte und an der Küste von Esmeraldas an Land ging, um sich mit Trinkwasser zu versorgen. Dabei wurde die Besatzung von den Sklaven überwältigt und umgebracht. Die Sklaven bemächtigten sich ihrer Waffen und blieben an Land, arrangierten sich mit der indianischen Urbevölkerung oder besiegten sie. Sie organisierten sich in so genannten Palenques, „von freien Sklaven gegründete Dörfer“ (Wikipedia). Die Weißen und überhaupt die Regierungen mieden dieses Gebiet im tropischen Urwald bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es war eine Art „No go area“, zum einen wegen der allgegenwärtigen Malaria, zum andern wegen der Menschen, die so ganz anders waren: Freier, rebellischer und unabhängiger als die Menschen der meisten anderen Ansiedlungen von Afroamerikanern. Im Wappen der Provinz Ecuador heiß es darum auch stolz: „Esmeraldas: Libre por rebelde“ (Frei, weil rebellisch). Trotzdem sind sie fast alle Christen geworden. Es müssen gute Missionare gewesen sein, nicht nur mutige, sondern auch respektvolle, die das Christentum damals gebracht haben, wenn es auch ein Christentum etwas besonderer Prägung blieb.

Wer jahrelang unter solchen Menschen lebt, bleibt nicht unverändert. Eine echte Begegnung mit einer anderen Kultur verändert beide Partner. Das gilt auch für Missionare. Jeder gibt und empfängt. Was man von Esmeraldas mitnimmt, und was Hans-Peter mitgenommen hat, ist vielleicht auch der Geschmack von Freiheit, die Erfahrung, dass wenige Dinge ewig Bestand haben und dass es mehr als nur einen Weg gibt, ein erfülltes Leben zu leben. Gerade wir Deutschen spüren, dass uns etwas von der Leichtigkeit, mit der die Menschen dort das Leben nehmen, fehlt.

Hans-Peter fühlte sich wohl und voll verwirklicht in seiner Aufgabe mit den Jungs der Bubenstadt. Weh tat ihm die in Esmeraldas bei Provinzversammlungen immer wieder zu hörende Bemerkung, dass die Bubenstadt nicht zu unserem combonianischen Charisma passe und dass sie außerdem so eine Art deutsche Insel sei. Als dann von Deutschland die Aufforderung kam, zurückzukehren und die Schreinerei in Josefstal zu übernehmen, war das für ihn eine existentielle Frage. Hans-Peter hat sich seine Entscheidung, aus dem Orden auszutreten, nicht leicht gemacht. Er bat um eine Auszeit bei den Benediktinern in Münsterschwarzach, im Recollectio-Haus. Von dort kam er bestärkt und mit dem Entschluss zurück, diesen Schritt zu tun.

Er heiratete eine Frau aus Ecuador, keine Afroecuadorianerin, sondern Monica Salazar aus Quito. Zunächst waren beide, er als Leiter, sie als Sekretärin, in einem vom Bischof gegründetes SOS-Kinderdorf in Atacames bei Esmeraldas. Auf Grund rechtlicher Hindernisse – als Ehepaar durften sie nicht beide in der gleichen Einrichtung arbeiten – konnten sie diese Tätigkeit nicht fortsetzen und entschlossen sich, nach Deutschland zu kommen. Monica hat eine Ausbildung in Betriebswirtschaft. Aber die wurde in Deutschland nicht anerkannt. Sie arbeitet als Reinigungskraft in einem Krankenhaus. Auch Hans-Peter konnte keine Arbeit finden, die seiner Ausbildung entsprach. Zu viel Zeit war seither vergangen. Er fand eine Stelle als Hausmeister in einem Industriebetrieb in Herrenberg. Die beiden akzeptierten die Situation, lebten bescheiden und ohne große Ansprüche. Die geistige Heimat von beiden blieb Ecuador; zu Hause unter sich sprachen sie fast nur Spanisch. Aus dem Erbe seiner Eltern erwarben sie sich eine bescheidene Eigentumswohnung in Herrenberg. Ein großes Glück, dass im gleichen Haus auch seine Schwester mit ihrer Familie wohnt.

Als er vor ein paar Jahren schwer erkrankte, entfaltete Monica die ganze Fürsorge einer lieben Partnerin. Die Krankheit war ein seltener aggressiver Hautkrebs. Für seine Beisetzung wünschte er sich neben Liedern des Vertrauens in Gott und „Großer Gott, wir loben dich …“ die Musik seines Lieblingsliedes „Guajira Guantanamera“, das Lied eines ehrlichen armen Mannes aus Kuba über seine Geliebte aus Guantánamo. Sein Neffe, der auch zu seiner Zeit ein Jahr als Freiwilliger in der Bubenstadt gearbeitet hatte, spielte es auf der Gitarre. Es war eine sehr einfache, aber würdevolle Feier. Wäre Hans-Peter Bürkle in Esmeraldas gestorben, hätte die Trauergemeinde Hunderte von Menschen umfasst.

Pater Reinhold Baumann