Haben wir Missionare überhaupt noch eine Chance, den Menschen von heute Gott nahe zu bringen, wenn unsere aufgeklärte Kultur zunehmend gottloser wird? Selbst in Notsituationen scheint man ihn eigentlich nicht mehr zu brauchen.
In einer weiteren Folge unserer Reihe „Mission heute“ versucht Pater Franz Weber zum einen eine zeitgemäße missionstheologische Antwort und verweist zugleich auf die religiöse Grunderfahrung der Armen, für die Gott auch in leidvollen Situationen „einfach da ist“.
„Gott-lose“ Welt?
„Not lehrt beten“ – sagt ein altes Sprichwort. Dass eine extreme Notsituation, wie sie fast die gesamte Menschheit durch die vom Coronavirus ausgelöste Pandemie durchzustehen hat, vielfach und oft bewundernswert wieder neu zu einem verantwortungsbewussten und solidarischen Handeln führt, ist vielerorts zu beobachten. Lebensbedrohende Situationen wecken ungeahnte Widerstandskräfte und lassen Menschen weit über ihre Grenzen hinauswachsen. Dass existentielle Krisen notwendigerweise aber auch die Frage nach der Existenz und dem Wirken Gottes in der Welt neu stellen lassen, dafür liefert die Corona-Krise keinen Beweis. Eine von einem Meinungsforschungsinstitut durchgeführte Umfrage hat zwar ergeben, dass zumindest ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands angesichts der aktuellen Bedrohung angeblich wieder häufiger betet …
Coronakrise und Gotteskrise
Lehrt Not also vielleicht doch beten? Führt sie auch zum Glauben? Die „Gotteskrise“, die namhafte Denker unserer Zeit im ehemaligen christlichen Abendland seit langem konstatieren, scheint durch die Corona-Krise keineswegs überwunden. Im Bemühen, der Krise verantwortungsbewusst zu begegnen und Leben zu retten, ist im medialen Diskurs in Politik, Medizin und Wissenschaft von Gott jedoch nie die Rede. Nur da und dort gesteht vielleicht jemand auch einmal ein, sich an Gott zu erinnern, wenn der Kampf um das Leben von Todkranken vergeblich ist. Wo ist Gott, wenn Menschen fern von ihren Lieben allein sterben müssen?
Hat Gott ausgespielt?
Wir leben hierzulande weithin in einer Zeit der Gottvergessenheit. Die „Hauptrolle“, die Gott über Jahrhunderte nicht nur in dem vom Christentum geprägten Abendland, sondern auch in den religiösen Vorstellungen aller Kulturen der Menschheitsgeschichte einmal gespielt hat, scheint sich im Welttheater von heute bestenfalls noch als eine „Nebenrolle“ zu halten. Oder hat Gott seine Rolle – zumindest in stark säkularisierten Gesellschaften – überhaupt ausgespielt, sodass man heute ehrlicherweise von einem Zeitalter religiöser „Demenz“ sprechen muss? Es ist schmerzlich für eine Tochter oder einen Sohn, wenn ein Vater oder eine Mutter, die ihren Kindern und Enkeln bisher liebevoll zugewandt waren, ihre nächsten Angehörigen nicht mehr erkennen. An die Stelle von Vertrautheit und Nähe tritt dann Schritt für Schritt eine totale Entfremdung.
Gott ist nicht „dement“
Der Vergleich rüttelt auf. Aber er trifft nicht auf das zu, was uns Jesus von Gott als seinem und unserem Vater erzählt hat: Nein, Gott ist nicht „dement“ geworden. Er vergisst den von ihm als sein Abbild geschaffenen Menschen nicht, er erkennt und kennt jede und jeden und spricht seine Töchter und Söhne mit Namen an. Er schenkt ihnen nicht nur in Zeiten der Bedrängnis, sondern auch in den schönen Stunden des Lebens seine, allerdings sehr diskrete, Nähe. Denn er drängt sich nicht auf. Er bleibt einfach da, auch wenn wir Menschen ihn nicht mehr erkennen und ihn vielleicht sogar loshaben oder aus unserem Leben in Kirchen und Museen abschieben wollen. Das Problem der Demenz liegt also nicht bei Gott. Es ist kein Gewinn an Kultur, wenn der Mensch Gott um jeden Preis „los-kriegen“ will und einer Gottvergessenheit verfällt, weil er seine Sehnsucht nach einem letzten Sinn mit Gewalt verdrängt und die vielen Formen der Gottesgegenwart nicht mehr staunend und dankbar wahrnehmen kann.
Gottesgegenwart und Gottesferne
Manchmal ist es „zum Greifen nah“, dieses unfassbare Geheimnis, das wir Gott nennen. Und dann ist er wieder „weg“ und hüllt sich in Schweigen. Es gehört im wahrsten Sinn des Wortes zu unserem Beruf, wenn wir als Missionare und Theologen „von Gott reden“. Aber wehe uns, wenn wir meinen, Gott „im Griff zu haben“. Im Blick auf das Lebenszeugnis großer Heiliger und Mystiker wissen wir um deren Not der Gottesferne und seiner Abwesenheit in der „dunklen Nacht der Seele“, schmerzliche Erfahrungen, durch die ein Johannes vom Kreuz und eine Mutter Teresa und viele andere gehen mussten. Und es tut gut, sich an die Worte des Psalms zu erinnern, mit denen Jesus seine „Gottverlassenheit“ am Kreuz in die Welt hinausgerufen, sie aber schließlich in ein grenzenloses „Gottvertrauen“ hinein gelegt hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34)) – „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23, 42).
Wo ist Gott?
Auch uns Missionare überfällt angesichts vieler zum Himmel schreiender Unrechtssituationen, die wir in Afrika oder Lateinamerika oft ohnmächtig mit ansehen und mit erleiden müssen, diese Frage: „Wo ist da Gott?“ – „Warum greift er nicht ein?“ – „Warum lässt er so viele um ihre Rechte und um ihre Würde betrogene Menschen im Stich, wenn sie ihm, wie es Jesus verkündet und vorgelebt hat, so sehr am Herzen liegen?“ – „Warum lässt er gewissenlose Ausbeuter, die ihre Macht- und Geldgier buchstäblich über Leichen gehen lässt, einfach gewähren?“
Gott vergisst uns nicht
Was mir in meiner Mission im Nordosten Brasiliens diesbezüglich oft geholfen hat, den Glauben an die Anwesenheit Gottes nicht zu verlieren, war zweifellos dieses unerschütterliche Glaubensbekenntnis der Armen: „Deus não se esquece da gente“ – „Gott vergisst uns nicht“. Wie sie erfahren Millionen von Menschen ihre Existenz zwar als leidvoll, aber nicht als hoffnungslos, weil sie nicht an „religiöser Demenz“ leiden: Nein, sie spüren offensichtlich, dass Gott ihnen – trotz allem – nahe bleibt und durch sie für andere Hoffnung stiftend handelt.
Mission ist Gottes Werk
Wie kann christliche Mission heute so gestaltet werden, dass sie Menschen Gott auf diese Weise „nahe bringt“? Seit der Weltmissionskonferenz von 1952 hat sich in der evangelischen Theologie die Überzeugung herausgebildet, dass christliche Mission nicht zuerst eine Heilsveranstaltung der Kirche, sondern vor allem „Missio Dei“, Werk und Zuwendung Gottes zur Welt und zum Menschen, ist. Diese neue Sicht von Mission wurde auch von den orthodoxen Kirchen begrüßt, in der katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil übernommen und seither immer wieder vertieft.
Gott ist und bleibt auch in der Welt von heute „am Werk“. Er hat die von ihm geschaffenen und von seinem Sohn Jesus Christus erlösten Menschen nicht vergessen. Er beschenkt sie auch dann mit seiner „Geistesgegenwart“, wenn sie diese seine Präsenz nicht wahrhaben, sondern ihn „los-haben“ wollen. In Bischof Daniel Comboni war angesichts einer damals fast aussichtslosen Missionssituation im Sudan, in der viele seiner Missionare und schließlich auch er selbst todbringenden Tropenkrankheiten zum Opfer fielen, die Überzeugung gereift, „dass seine Berufung von Gott stammte und dass seine Mission als Gottes Werk nicht scheitern würde“.
Als Angehörige einer internationalen Gemeinschaft sind wir in der Wahrnehmung unserer Mission heute in vielen Ländern, in denen wir tätig sind, mit zahlreichen lebensbedrohenden Situationen konfrontiert und zu einem solidarischen Handeln herausgefordert.
Unsere eigentliche Sendung
Was ist und bleibt darüber hinaus unsere eigentliche Sendung? In Menschen wieder die Sehnsucht nach diesem von vielen „vergessenen“, vielleicht auch nur „an den Rand gedrängten“ oder „verdrängten“ Gott zu wecken und Räume der Wiederbegegnung mit ihm zu eröffnen, in denen sie entdecken dürfen, dass dieser „unbekannte Gott“ auch der Gott ihres Lebens ist: Darin besteht nach wie vor unsere ursprüngliche Mission, die wir mit allen teilen, die den Namen Christi tragen.
P. Franz Weber