Beim großen nationalen Basisgemeindetreffen im Juli dieses Jahres in Porto Velho, Rondônia, wurde ein afrikanisches Sprichwort in den Raum gesetzt, das jetzt in unseren Gemeinden gern verwendet wird: „wo einfache Menschen an unbedeutenden Orten kleine, unscheinbare Dinge tun, da verwirklichen sie außergewöhnliche Veränderungen“. Das ist ein weihnachtlicher Gedanke, das ja mit klein, arm und unscheinbar zu tun hat. Das ist auch meine Erfahrung hier an der Periferie von Manaus: Wir sind als katholische Kirche zur Minderheit geworden im Vergleich zu den unzähligen evangelikalen Gruppen, die sich ständig vermehren. Unsere Gemeinden sind klein, kämpfen gegen viele Widerstände, und neue MitarbeiterInnen werden schwer gefunden. Und oft müssen solche plötzlich wegen neuer Arbeitsbedingungen ihren Wohnort wechseln. Trotzdem sind diese Gemeinden eine wichtige Präsenz, vor allem wenn es darum geht, in Konfliktsituationen zu vermitteln, Rechte zu erwirken oder Menschen in Notlagen zu helfen.

Brasilien hat sich in den letzten 7 Jahren gewaltig verändert, ist wirtschaftlich sehr gewachsen und säkularisiert sich damit auch sehr. Der Präsident Lula hat ein Rekordhoch von 83% Anerkennung erreicht. Er ist auch unter den Armen zu einem Idol geworden, unter anderem weil er den Armen ein neues Selbstbewusstsein gegeben hat. Auf der anderen Seite ist seine Regierung zwiespältig. Sein kapitalistisches Entwicklungsmodell verlangt immer mehr Mega-Projekte zur Energieherstellung, die gegen die Umwelt und gegen den Regenwald gehen. So wird jetzt nach den schon im Bau befindlichen Wasserkraftwerken am Rio Madeira das Kraftwerk „Belo Monte“ in der Prälatur Xingu von Bischof Kräutler geplant, das höchst zerstörerisch in die Umwelt und das Leben der Menschen dort eingreifen wird. Allein in der Bischofsstadt Altamira sollen 25.000 Menschen umgesiedelt werden und viele Indianerstämme ihr Land verlieren. Der Riesenfluss Xingu wird sich auf einer Länge von 100 km total verändern. Der Präsident hat Bischof Kräutler vor wenigen Monaten persönlich zugesichert, dass das Projekt dem Volk nicht aufgezwungen werden wird. Inzwischen scheint alles beschlossene Sache. Das hat Bischof Kräutler vor kurzem zur Aussage veranlasst: „sollte Belo Monte gebaut werden, wird Präsident Lula als einer der größten Umweltzerstörer des Amazonas in die Geschichte eingehen“.

Unsere Erzdiözese Manaus hatte in den letzten Monaten eine Welle von Gewalt zu ertragen. Es gab mehrere bewaffnete Überfälle auf Pfarr- und Ordenshäuser, der Bischof von Coari wurde entführt und im September wurde dann ein italienischer Missionar, mein Nachbarpfarrer, erschossen im Pfarrhaus aufgefunden. Das war 2009 bereits der 6. Priester, der in Brasilien ermordet wurde. Wir vermuten die Drogenmafia hinter dieser Bluttat, aber eine endgültige Aufklärung gab es bisher nicht.

In meinem Alltag habe ich es mit allen möglichen relativ unspektakulären Arbeiten zu tun: Leute anhören, die ihr Leid klagen, manchmal jemand ins Krankenhaus fahren, einige wenige Bauten von kleinen Kapellen begleiten, als „Taxi“ unterwegs sein (mit meinem von der MIVA gespendeten Auto), um unsere Laien, die oft in gefährlichen Zonen leben, nachts heimzufahren, neben den pastoralen Diensten wie Treffen mit den GemeindeleiterInnen und Gottesdiensten usw. Relativ viel habe ich mit Kindern und Heranwachsenden zu tun. Erstens haben die Indianerkulturen hier im Amazonas durchschnittlich noch mehr Kinder, im Unterschied zum übrigen Brasilien, und zweitens bleibt ihnen zum Spielen oft nur die Straße oder der freie Platz vor der Kirche, wo sie vor der Alltagsgewalt etwas geschützt sind. Um sie an die Gemeinde zu „binden“, haben wir in diesem Jahr mit Ministranten angefangen und vor kurzem die ersten 40 in Dienst gesetzt.

An der Periferie, also in den Vororten, gibt es kaum eine „rein katholische“ Familie (mehr). Manchmal bekriegen sich die Familienmitglieder wegen der verschiedenen Religionszugehörigkeit unter sich. Aber es gibt auch Situationen, wo das Zusammenleben gelingt. Leider gibt es auf kirchlicher Ebene in Manaus keine einzige ökumenische Initiative, sondern eher ein gegenseitiges Ignorieren oder sogar starke Konkurrenz. Das Wachsen der evangelikalen Gemeinschaften ist das größte religiöse Phänomen Lateinamerikas der letzten Jahre. Die Gründe dafür sind vielschichtig und komplex. Man merkt, dass es in Lateinamerika in den vergangenen Jahrhunderten keine echte Evangelisierung gegeben hat. Die Missionare zogen einmal im Jahr die Flüsse hinauf, tauften die Kinder und spendeten die Sakramente. Heute, wenn bei mir in der Gemeinde plötzlich neue Gesichter auftauchen, weiß ich, dass bald der Taufsonntag kommt. Danach schmilzt die Gemeinde wieder auf ihre natürliche Größe. Es gibt aber auch Familien, in der kaum jemand getauft ist.

Ein ähnliches, faszinierendes Schauspiel von „Ebbe und Flut“ wie in den Gemeinden, vollzieht sich auch regelmässig in der Natur. Wenn die Regenzeit einsetzt (Dezember/Jänner), steigen die Flüsse um ca. 5m-10m an, überfluten den Regenwald, erreichen im Juni ihren Höchststand und sinken dann wieder, sodass im November jedes Jahr tausende Fische wegen Sauerstoffmangels sterben, weil das Wasser seicht und damit zu warm wird für sie. So 2x-3x im Jahr habe ich die Gelegenheit, zu einem Treffen ins Landinnere zu fahren. Da liege ich dann in der Hängematte und kann vom Schiff aus, stundenlang dieses Naturschauspiel beobachten, wo nichts anderes zu sehen ist als Grün und Wasser. Ist das nicht Öko-Spiritualität?…

Pater Karl