Die interkulturelle Praxis als missionarische Herausforderung: Für den südafrikanischen Erzbischof Desmond Tutu war die interkulturelle Begegnung der Weg zum Frieden. Im dritten Teil unserer Reihe „Was uns bewegt“ wirft Pater Hans Maneschg einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Interkulturalität und Mission.
Aufbruchsstimmung
Die Evangelisierung der Kulturen war das große Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils in seiner „Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“: Gaudium et Spes. Dieses Dokument von 1965 atmet etwas von der Aufbruchsstimmung auf dem Weg der Erneuerung der Kirche. Es beschreibt Kultur als eine komplexe Wirklichkeit, als eine multikulturelle Welt. In den folgenden beinahe sechs Jahrzehnten seit dem Konzil hat sich die kulturelle Landschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft geändert. Verschiedene Faktoren wie soziale Medien der Kommunikation (Internet und Digitalisierung), Industrialisierung und Wirtschaft, Expansion der Weltbevölkerung, Konsumgesellschaft und bittere Armut, Kriege, Migrationen, Globalisierung haben den Rhythmus der Zeit enorm beschleunigt. Manche wollen dies nicht wahrnehmen, andere stemmen sich dagegen. Viele kapseln sich ab und misstrauen einander.
Unterschied als Chance
Wenn wir aber den Menschen als soziales Wesen ins Auge fassen, dessen Leben sich erst in der Beziehung zum anderen entfaltet, dann können wir erahnen, welche Chance für Wachstum gerade in einer solchen Welt besteht. Es gilt, die Schönheit einer multikulturellen Welt als hohen Wert zu entdecken.
Ja, wir sind unterschiedlich. Die Unterschiede dürfen nicht eliminiert, sondern müssen anerkannt und respektiert werden, um den ganzen Reichtum voll aufleuchten zu lassen. Wir sind eine Gesellschaft, in der diese Unterschiede zusammenleben, sich dabei ergänzen und erhellen. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos. Wesentlicher Bestandteil der Spiritualität, die dieser Wirklichkeit entspricht, ist eine Kultur der Begegnung und des Dialogs.
Das Wort Ubuntu bezeichnet eine Lebensphilosophie, die im alltäglichen Leben aus afrikanischen Überlieferungen heraus vor allem im südlichen Afrika praktiziert wird. Das Wort Ubuntu kommt aus den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ sowie die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines größeren Ganzen ist.
Quelle: wikipedia
Bischof Desmond Tutu
Man kann Multikulturalität und Interkulturalität mit dem vertrauten Bild des Regenbogens erklären. Es ist zu einem universalen Bild geworden. In der biblischen Sintflut-Erzählung ist der Regenbogen zum Zeichen des Bundes geworden, den Gott mit den Menschen, ja mit allen Lebewesen, und sogar mit der ganzen Schöpfung stiftet.
Der am 26. Dezember 2021 verstorbene emeritierte anglikanische Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu, war von diesem Bild zutiefst fasziniert. Tutu, der sich nicht nur dem System der Apartheid widersetzt hat, sondern sich als Anwalt für die Unterdrückten in aller Welt einsetzte, und nach dem Fall des Systems dann mit allen Kräften für die Versöhnung geworben hat, wird von Papst Franziskus in Fratelli Tutti neben Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Charles de Foucauld als „Quelle der Inspiration“ gewürdigt. Er hat für Südafrika das Wort der „Regenbogennation“ geprägt. Das war seine Vision von einem interkulturellen Südafrika, in dem Menschen aller Hautfarben friedlich zusammenleben. Für ihn war interkulturelle Begegnung der Weg zum Frieden.
Mensch sein
Gelebte Interkulturalität bedeutet eine Zuwendung zum „Anderen“, eine Zuwendung mit Offenheit und Akzeptanz. Damit das gelingt, braucht der Mensch eine Identität, die sich aber immer in der Beziehung zum anderen entfaltet. Dies ist gerade im Umgang mit Flüchtlingen offenbar geworden. Anstatt die Begegnungen mit ihnen als Bereicherung und Ergänzung zu akzeptieren, wurden sie leider nicht selten als Bedrohung der eigenen Identität und des eigenen Wohlstands angesehen. Ich kann aber meine eigene Identität nicht entwickeln, ohne dass ich Beziehungen zu anderen pflege.
Wer andere unterdrückt und ihnen Unrecht zufügt, der verletzt im Grund seine eigene Würde. Das wird eindrucksvoll in einem bekannten afrikanischen Spruch zum Ausdruck gebracht: „Umuntu ngumuntu ngabantu“ bedeutet „Menschen brauchen Menschen, um Mensch zu sein“ oder „Eine Person ist eine Person durch andere Personen“. Von dieser Weisheit haben sich sowohl Desmond Tutu wie Nelson Mandela leiten lassen und so Interkulturalität praktiziert. Ubuntu, „Menschlichkeit“, lernt der Mensch durch die Praxis. Dabei ist Ubuntu ein Sammelbegriff für Respekt, Wertschätzung, Hilfsbereitschaft, Miteinander-Teilen, Gemeinschaftssinn, Vertrauen, Anteilnahme, Selbstlosigkeit.
Papst Franziskus spricht von Lernprozessen. Ubuntu ist menschenverbindend mit seinen universalen Werten, die es verkörpert. Es ist universal wie der Drang nach einem erfüllten Leben, in dem wir die Erde als das „gemeinsame Haus“ mit anderen teilen und für die Menschen, die darin wohnen, sorgen. Wir sind alle Geschwister, sind Kinder eines gemeinsamen Schöpfers. Der Traum einer geschwisterlichen Welt ist im Glauben an ihn verwurzelt. Wie wir vom Anderen denken und am Anderen handeln, offenbart auch das Bild, das wir von Gott haben. Denn im Geheimnis des Anderen begegnet uns der „Andere“, der „Heilige“ schlechthin.
P. Hans Maneschg