Ulrike Purrer leitet seit zwölf Jahren das Jugendzentrum „Centro Afro“ in Tumaco, Kolumbien. Im Dezember war die Theologin mit zwei Jugendlichen aus dem Zentrum in Deutschland als Gast der Adveniat-Weihnachtsaktion 2024. Im Missionshaus in Ellwangen gab sie uns ein Interview.

Ulrike, seit zwölf Jahren bist du in Tumaco zuhause. Kannst Du Dich an die Anfänge erinnern?
Oh ja, ich erinnere mich gut. Am Anfang war das fast etwas überwältigend. Ich hatte damals zwar schon mehrere Jahre Lateinamerika auf dem Buckel, aber Tumaco war dann noch einmal eine ganz neue Welt. Alles war so laut und trubelig und dicht, dazu kam die extreme Gewalt, so dass ich zwar nie wirklich Angst hatte, aber doch erst einmal die Spielregeln des Alltags zwischen den bewaffneten Gruppen und der kirchlichen Menschenrechtsarbeit kennenlernen musste.

Was hat Dich bewogen, nach Lateinamerika zu gehen? Kolumbien war ja nicht Dein erster Einsatz.
Das stimmt. Nach dem Abitur war ich bereits für zwei Jahre über die „Jesuit European Volunteers“ (JEV) in Mexiko und dann während meines Theologiestudiums vier Semester in El Salvador. Da hat sie mich gepackt, diese andere Art, Kirche zu sein und diese sehr konkrete, lebensrelevante und auch politische Theologie.

Seit 2012 arbeitet Ulrike Purrer im Jugendzentrum der Comboni-Pfarrei „La Resurrección“. Foto: Centro Afro

Wie kam es zu Deiner Aufgabe in Tumaco?
Nach dem Studium hatte ich mich im Rahmen meiner Doktorarbeit intensiv mit den Potenzialen kirchlicher Friedensarbeit beschäftigt. Diese Erkenntnisse galt es nun, in die Praxis umzusetzen. So war es eine wunderbare Fügung, dass die Comboni-Missionare damals jemanden für einen mehrjährigen Basiseinsatz in der Friedensarbeit mit Jugendlichen in Tumaco suchten. Das war genau das Richtige für mich.

Kannst Du Dich an Deine erste Begegnung mit den Tumaqueños erinnern? War da eher Skepsis oder auch Offenheit zu spüren?
Mein Eindruck war, dass die Menschen mich nicht so recht einordnen konnten. Sonderlich viele Fremde kamen ja nicht nach Tumaco, um in ein kleines Holzhäuschen mitten in einer der schwierigsten Gegenden zu ziehen und langfristig zu bleiben. Ganz selten machen das Ordensleute, während internationale NGO-Mitarbeiter eher im Zentrum wohnen und meist auch bald wieder gehen. So wurde ich anfangs schon etwas kritisch beäugt, natürlich auch von den bewaffneten Gruppen. Offen und ganz unkompliziert waren dagegen von Anfang an die Kinder und Jugendlichen, und für die war ich ja auch gekommen. Außerdem war ich ja immer mit den Comboni-Missionaren unterwegs, also als kirchliche Mitarbeiterin erkennbar. Auch das hat mir geholfen, recht schnell das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.

Die Pfarrei „La Resurrección“ in Tumaco wird von Comboni-Missionaren geleitet. Wie war der Austausch mit ihnen?
Als ich nach Tumaco kam, bestand die Comboni-Kommunität dort aus fünf Missionaren, die sehr engagiert und kompetent nicht nur in unserer Pfarrei, sondern in der gesamten Region überzeugende Jugend- und Basispastoral sowie Menschenrechts- und Friedensarbeit leisteten. Das hat mich sofort überzeugt und mir das Gefühl gegeben, genau am richtigen Fleck zu sein. Der Austausch war sofort vertrauensvoll und auf Augenhöhe, sodass ich ganz viel von ihnen lernen, aber auch Vieles einbringen konnte. So ist dieser Männerorden in gewisser Weise zu meiner Familie in Kolumbien geworden, in der ich ein- und ausgehe. Wo ich diskutieren kann, mich aber auch verstanden fühle. Dafür bin ich sehr dankbar.

Das eigentliche Geschenk der internationalen Zusammenarbeit ist die respektvolle und solidarische Begegnung von Menschen. Davon bin ich fest überzeugt!

Jede Woche treffen sich die Jugendgruppen im Centro Afro. Edwin Narváez (Mitte) leitete auch eine Jugendgruppe und studiert inzwischen Soziale Arbeit in Cali. Foto: Centro Afro

Tumaco hat den Ruf, einer der gewalttätigsten Orte Kolumbiens zu sein. Warum bist Du dennoch dort hingegangen?
Ich glaube, das wahre Ausmaß der Gewalt war mir vorher gar nicht ganz bewusst. Allerdings wusste ich, dass ich nicht allein unterwegs sein würde, sondern mit den Comboni-Missionaren und dem Bistum Tumaco und natürlich mit den Menschen vor Ort. Angst habe ich deshalb auch nicht verspürt, sondern einfach den tiefen Wunsch, gerade an einem so schwierigen Ort diesen Weg mit den Menschen zu gehen und mich ganz auf diese Realität einzulassen.
Deine Rundbriefe an Freunde, Unterstützer und Interessierte spiegeln den schwierigen Alltag in Tumaco wider, aber es finden sich viele Hoffnung machende Beispiele: Kinder aus dem Centro Afro machen höhere Schulabschlüsse, die ersten gehen inzwischen sogar auf Universitäten. Das sind auch Ergebnisse Deiner Arbeit von inzwischen zwölf Jahren. Wie siehst Du die Zukunft des Centro Afro und der Bewohnerinnen Tumacos?
Ich habe in diesen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes „mein Bestes“ gegeben. Rund um die Uhr, fast ohne Pausen und immer mit sehr hohen Ansprüchen an mich selbst. So trägt das Centro Afro schon auch deutlich meine Handschrift. Und dennoch wären all diese wunderbaren Entwicklungen natürlich niemals ohne all unsere Kids und ohne unser großartiges Team möglich gewesen. Miteinander haben wir verlässliche Strukturen geschaffen und uns die breite Anerkennung vor Ort hart erarbeitet. Darauf kann das Centro Afro nun weiter setzen und kraftvoll in die Zukunft schauen. Dennoch bleibt natürlich auch noch viel zu tun, mit ganz viel Spielraum auch für neue Akzente.

Angst habe ich nicht verspürt, nur den tiefen Wunsch, gerade an einem so schwierigen Ort diesen Weg mit den Menschen zu gehen und mich ganz auf diese Realität einzulassen.

Nach einer so langen Zeit ist es sicher nicht einfach, loszulassen. Gibt es eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger, die oder der die Arbeit fortführen wird?
In den ersten Jahren habe ich zwar mit der Rückendeckung der Comboni-Missionare, aber im Grunde allein und ausschließlich mit ehrenamtlichen Jugendlichen im Centro Afro gearbeitet. Doch dann ist ein tolles dreiköpfiges Leitungsteam entstanden, das inzwischen mit wöchentlichen Planungssitzungen, großem Teamgeist und klarer Aufgabenverteilung sehr professionell arbeitet. Unterstützt wird dieses Koordinationsteam von unserem Jugendvorstand, der sich aus je zwei gewählten Sprechern aller Kinder- und Jugendgruppen des Centro Afro zusammensetzt. Meine Aufgabe besteht also in dieser Abschlussphase eigentlich nur noch darin, mich überflüssig zu machen und dann – wenn auch ganz schweren Herzens – wirklich zu gehen. Dankbar, zuversichtlich und im festen Vertrauen auf die Nachhaltigkeit dieses gemeinsamen Prozesses.

Was hat sich für Dich durch Dein Leben in Tumaco geändert? 
Natürlich hat sich in diesen Jahren so manches für mich verändert. Vieles hat sich jedoch auch einfach noch vertieft. Einerseits bin ich „frommer“ und dadurch vielleicht auch demütiger geworden, andererseits jedoch auch noch profilier- er in bestimmten (Gewissens-)Entscheidungen. Außerdem glaube ich heute mehr denn je an Gewaltfreiheit und an den Reichtum gesellschaftlicher Vielfalt.

Welchen Rat gibst Du Menschen, die sich für diese Art von Arbeit interessieren?
So ein Einsatz muss eine echte Herzensangelegenheit sein. Das sind wir den Menschen vor Ort schuldig. Also kein Plan B aus Ermangelung an Alternativen auf dem heimatlichen Arbeitsmarkt, kein simpler Job mit Gewinnabsichten oder gar der Versuch, den eigenen Lebenslauf mit einem Auslandsaufenthalt aufzuwerten. Im Gegenteil, ich bin der festen Überzeugung, dass das Potenzial gerade darin liegt, ohne eine eigene Agenda in den Einsatz zu gehen, sich ganz einzulassen und ergebnisoffen gemeinsam auf den Weg zu machen. Und Vorsicht beim Einsatz von Geld! Das eigentliche Geschenk der internationalen Zusammenarbeit ist die respektvolle und solidarische Begegnung von Menschen. Davon bin ich fest überzeugt!

Ulrike, vielen Dank für das Interview. Alles Gute für die Zukunft und Deine weiteren Pläne.

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Interview: Ulrike Lindner