Wenn der Funke des Glaubens überspringt, erblüht die Kirche neu. Daran glaubt Bruder Hans Eigner und teilt mit uns seine Gedanken über “Glauben können” in der heutigen Welt.

Glaube ist zuallererst eine persönliche Entscheidung, die auf Erfahrung baut; aber letztlich ist Glaube eine Gnade. Diese Gegebenheit musste ich lernen. Kraft bekommt der Glaube, wenn er als Gemeinschaft erfahren wird. Meine Erfahrungen mit den sogenannten Kleinen Christlichen Gemeinschaften (KCG), die ich in der Pfarrei Kariobangi in Kenia erlebt habe, waren dabei prägend. Bei diesen Menschen, mit denen ich zusammengelebt und -gearbeitet habe, spürte ich eine „Gott-Fähigkeit“. Der Jesuiten-Pater Alfred Delp beschrieb kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis den modernen Menschen als “nicht mehr gottfähig“.

Wir sind religiös obdachlos geworden.

Comboni-Missionar Bruder Hans Eigner. Foto: Ernst Zerche

Himmel auf Erden?
Unser Leben hat sich in den vergangenen 60 Jahren – die ich selbst überblicken kann – gewaltig verändert und diese Gegebenheit hat auch uns, einen jeden von uns, verändert. Von diesem Prozess blieb auch der Glaube nicht unberührt. War früher der Glaube eine Selbstverständlichkeit, Gott war allgegenwärtig, so ist heute der Glaube nur noch eine Option. Ich würde sagen, dass wir religiös obdachlos geworden sind, während wir in komfortablen Häusern wohnen.
Die Weitergabe des Glaubens hat in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft kaum mehr stattgefunden, und wir sehen und fühlen den lautlosen Auszug aus der Kirche. Dafür gibt es viele Erklärungen, kirchen-interne und -externe. Zu den kirchen-internen Gründen gibt es viele Stimmen, ich will hier mehr über die äußeren Bedingungen des Glaubens schreiben. Etwas hat sich also für alle verändert: für die, die an Gott glauben und für die die nicht (mehr) an Gott glauben (können).
Vielleicht waren wir die vergangenen Jahrzehnte alle mit Wohlstandsvermehrung und Selbstoptimierung (bis hin zum Sport), mit Fortschritts- und Machbarkeitsdenken beschäftigt und haben uns so im Hier und Jetzt, also im Diesseits festgesetzt (zementiert). So haben wir uns die Welt verfügbar gemacht, vielleicht auch aus Angst, in diesem begrenzten Leben etwas zu versäumen. Während früher die Menschen auf das Jenseits vertröstet wurden, sind wir heute scheinbar auf der anderen Seite des Grabens gelandet, nämlich bei der Diesseitsvertröstung. Im Hier und Jetzt muss der ganze Himmel stattfinden. Dies betrachte ich als nicht weniger verhängnisvoll. Ich spreche hier nicht vom Einzelnen, sondern von der Gesellschaft als Ganzes.
Wir deuten die Welt nach den Mustern, die uns die moderne Gesellschaft anbietet. Die Welt wird deshalb benutzbar, beherrschbar und alles wird erreichbar. Wir haben alle Mittel entwickelt, um uns selbst zu „erlösen“ und dabei hat sich uns der Himmel verschlossen und die Welt ist verstummt. Und weil wir auch nicht mehr an einen Himmel glauben, sind wir bemüht, den Himmel auf Erden zu schaffen. Das überfordert uns nicht selten und, noch schlimmer, wir überfordern uns gegenseitig und stürzen die Welt ins Chaos durch Klimawandel, Kriege, soziale Ungerechtigkeit.
Dr. Hartmut Rosa, Soziologe aus Freiburg, sagt: „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nur dynamisch stabilisiert. Das heißt, wir benötigen permanentes Wachstum und Beschleunigung, um uns selbst zu erhalten. Das zwingt uns in ein mehrfaches Aggressionsverhältnis:
Aggression gegen die Natur, gegenüber den Mitmenschen durch Konkurrenzdenken und gegen sich selbst durch das Phänomen der Selbstoptimierung.
Der Glaube an Gott funktioniert aber so nicht. Mit dem von uns erlernten „Aggressionsmodus“ lässt sich Gott nicht finden. Der Glaube ist ein offenes Antwortverhältnis. Gott ist nicht einfach verfügbar wie die Ware im Supermarkt.

Der Ausspruch ‚Mungo yupo‘ (Gott ist da) ist die ganze wunderbare Theologie Afrikas.

Gott ist da und geht mit
Meine Erfahrungen in Ostafrika haben mir etwas Anderes gezeigt. Dort in Kenia habe ich wahrgenommen, dass die sichtbare und die unsichtbare Welt eine Einheit sind und die Welt nach oben offen ist. Kein Bereich ist davon ausgespart. Auch die Erfahrung der Zugehörigkeit ist prägend in Afrika, wie es folgendes Sprichwort ausdrückt: „Ich bin, weil wir sind.“ Das heißt, ich muss nicht der Beste, die Schönste sein, mich ständig vergleichen oder viel haben, sondern ich gehöre zu einer Gemeinschaft, die mich trägt und die mir Würde und Identität gibt. Weil sich die Menschen auf Gott verwiesen fühlen und aufeinander angewiesen sind, können sie ihr Leben, bei aller Not, hoffnungsvoll gestalten.
Eine Kreuzwegprozession am Karfreitag brachte dies in unserer Pfarrei Kariobangi ergreifend zum Ausdruck. Um 9 Uhr morgens sind wir damals mit dem großen Holzkreuz und einer Handvoll Leute von der Pfarrkirche losgezogen. Bei jeder Kreuzwegstation, mitten durch das Elendsviertel, haben sich mehr Menschen zugesellt und gegen Ende – nach ca. fünf Stunden – waren es mehr als tausend Menschen; Katholiken und Nichtkatholiken, Christen und vielleicht auch Nichtchristen, aber Menschen, die sich von Jesu Weg, seinem Kreuzweg, ernst genommen fühlten, letztendlich, weil auch ihr Lebensweg ein Kreuzweg ist. Der tröstende Satz bei Matthäus „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt…“ (Mt 11, 28) wurde plötzlich Wirklichkeit. Die Gemeinschaft, die unter dem Kreuz entstanden ist, hat mich und mein Missionar-Sein entscheidend geprägt.

Schulspeisung in Korogocho. Mitglieder einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft (KCG) bieten Schulkindern eine warme Mahlzeit. Foto: Comboni Press

Lange Jahre habe ich in Kariobangi gelebt und gearbeitet. Ca. 200 000 Menschen leben dort in menschenunwürdigen Verhältnissen. Die Armut hat dort viele, oft dramatische Gesichter. Dennoch gab es ein Wort, das ich praktisch jeden Tag gehört habe: „Mungu yupo“. Das ist Kiswahili und heißt übersetzt: „Gott ist da.“ Dies ist die ganze, ja eigentlich wunderbare, Theologie Afrikas, der Glauben Afrikas. In dieser Haltung kämpfen sich viele durch das Leben und erhalten die Kraft, den schweren Alltag zu meistern. Gott ist da – Gott geht mit. So wächst die Hoffnung, dass es irgendwann ein wenig besser wird. Wie sonst könnten zerrissene Familien, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose, Straßenkinder, aidskranke Menschen und viele mehr die Anstrengung und den Kampf des Lebens auf sich nehmen?
Nur so können viele im besten Sinn des Wortes „in den Tag hinein“ leben – ohne Bankkonto, ohne soziale Absicherung, vielleicht ohne zu wissen, was es heute Abend zum Essen geben wird. Aber ihre Erfahrung sagt, dass es immer wieder gut ausgeht – natürlich mit leidvollen Abstrichen. Ist das nicht Resilienz im besten Sinn?

Glauben neu erlebt
Ich bin als „Weltverbesserer“ 1984 das erste Mal nach Afrika gegangen und bin als Missionar zurückgekommen. In Afrika habe ich die tieferen Schichten des Glaubens von den Menschen gelernt. Ich sage gerne: Ein Missionar fällt nicht vom Himmel, sondern man wird einer, indem man sich auf die Menschen und das Wort Gottes einlässt. So habe ich im Zusammenleben mit den Menschen viel gelernt und meinen eigenen Glauben vertieft.
Wir Missionare sind Zeugen, dass immer dort, wo Menschen das Evangelium mit Herz und Offenheit in die Hand nehmen, die Gesellschaft und das Miteinander besser und menschlicher werden. So habe ich erfahren, dass Kirche immer wieder neu entsteht und wächst.
Die Pfarrei Kariobangi in Kenia hat eine große Hauptkirche und nur wenige Priester, aber sie ist aufgebaut auf 70 so genannte Kleine Christliche Gemeinschaften (KCG): Nachbarschaftskreise von 30 bis 50 Personen, die sich neben dem Sonntagsgottesdienst wöchentlich zum Bibelgebet in ihren Hinterhöfen oder Straßen treffen. Die Menschen lesen das Evangelium des kommenden Sonntags und fragen sich im Gebet, was in der unmittelbaren Umgebung schief läuft oder besser werden soll: Wo warten Kranke auf einen Besuch? Wo brauchen Nachbarn Hilfe? Wo hungern Familien oder können die Kinder nicht in die Schule schicken, da kein Schulgeld da ist? Wo brauchen Jugendliche Führung und Unterstützung, damit sie nicht als Straßenkinder auf den Müllhalden verschwinden?

Mehr als 1000 Menschen nehmen am Kreuzweg am Karfreitag in Kariobangi, Kenia teil. Foto: Comboni Archiv

Gemeinsam stark
Es beeindruckt jeden Missionar, welche Kraft das Evangelium in den Händen der Armen entwickelt und mit wie viel Phantasie und Hingabe die Menschen ihren Glauben leben. So geschieht es, dass eine Familie, die schon fünf oder mehr Kinder hat, auch noch die Kinder der verstorbenen Nachbarin aufnimmt. Ohne viel Aufsehen findet in Afrika viel Hilfe und soziale Arbeit statt, von der kaum berichtet wird. Auch die Frage von erlittenem Unrecht ist für viele Arme eine Ohnmachtserfahrung. Weil Einzelne keine Chance haben, bei der Polizei Unrecht zu melden, entstand die Idee, dass jede KCG ihre Unrechts-Erfahrungen niederschreibt. Danach wurde der Polizeikommissar in die Pfarrei eingeladen, um sich die gesammelten Klagen anzuhören. An solche und ähnliche Erfahrungen knüpfen wir als Missionare an. Und genau dort wird der Glaube zu einem Fest, der das Leben besser und schöner macht. Der Spruch “Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude” wurde für mich zu einer tiefen Erkenntnis.

Kirche neu verstehen
Jede Pfarrei bei uns in Europa steht heute vor der Frage: Wie lassen sich Gemeindemitglieder neu ansprechen? Was muss geschehen, damit wieder mehr Menschen in die Kirche kommen? Vielleicht aber müssen wir die Frage anders stellen: Wie gelangen das Wort und die Werte Gottes – nämlich die menschenfreundliche Liebe – zu den Menschen von heute?
Selbst wenn die Zahl der Kandidaten in den Priesterseminaren in absehbarer Zukunft zunehmen sollte, bräuchte es weitere 10 Jahre, bis sich die stark rückläufige Zahl der Priester stabilisiert. Derzeit „versorgt“ ein Priester oft fünf bis zehn Gemeinden und die wirkliche Seelsorge bleibt auf der Strecke. Papst Benedikt XVI. betonte schon 2010 „neue Wege der Verkündigung zu suchen, die der Zeit angemessen seien“.
Was ist passiert? Die große Idee des Bibelteilens, die Missio vor 30 Jahren in vielen Gemeinden propagiert hat, ist verebbt, da der wichtigste Schritt – das Tun – nicht umgesetzt wurde. Vielleicht sehen wir alles zu kompliziert und haben Angst, in der heutigen Zeit den Glauben zu bezeugen? Könnten vom Glauben überzeugte Menschen in ihren Gemeinden nicht Gebets- und Bibelkreise und andere Formen der Begegnung (mit dem Segen der offiziellen Kirche) aufbauen, die nicht im „Spirituellen“ stecken bleiben, sondern ins „Tun“ kommen, indem sie wirklich Anteil nehmen am Leben der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung? Nur so entsteht eine Gemeinschaft Glaubender, die die Kirche neu inspirieren kann. Denn wo das Evangelium ernst genommen wird, führt es zum Nächsten durch Anteilnehmen. Und sobald die Kraft des Evangeliums wirklich erfahren wird, ist der Weg in den Kirchenraum oder eben zur kirchlichen Gemeinschaft hin nicht mehr weit.
Ich frage mich, ob wir nicht in unserer „priesterarmen“ Situation mithilfe von KCGs dem Glauben neuen Ausdruck geben könnten. Ich habe erfahren, dass eine Gemeinde aufblüht, wenn ernsthaft und mit Freude die Botschaft Jesu, das Evangelium, in die Tat umgesetzt wird. Im Anteilnehmen am Leben des und der Nächsten entsteht so Gemeinschaft und Freundschaft mit tragendem Wert und der Himmel öffnet sich und Gott ist da.

Hans Eigner