Für die einen ist sie ein Irrweg, für andere ein hoffnungsvoller Aufbruch und die Fortschreibung des Zweiten Vatikanischen Konzils in die Realität Lateinamerikas.
Das wichtigste Ereignis für die Katholische Kirche im 20. Jahrhundert war zweifellos das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965). Es ging um die Frage: Wie kann ein aufgeklärter gebildeter Mensch des 20. Jahrhunderts glauben? Wie kann man ihm glaubwürdig und überzeugend von Gott reden? In vielen Lebensbereichen hatte die Welt einen Wandel durchgemacht; aus Monarchien waren Demokratien geworden.
Diese Fragen hatten sich auch in Lateinamerika gestellt. Doch hier kam noch eine andere Frage dazu, die im Konzil eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte: Wie kann man zu Menschen, die in Slums, im Elend leben, glaubwürdig von Gott reden? Ist dieses Elend, sind die horrenden Unterschiede im Lebensstandard einfach Schicksal, oder sind sie menschengemacht, Sünde? Muss die Kirche vielleicht mehr tun, als nur Not lindern und Armen helfen? Muss sie vielleicht das Unrecht, beziehungsweise die am Unrecht Schuldigen benennen und anklagen?
Bischofskonferenz in Medellin
1968 tagte in Medellin, Kolumbien, die lateinamerikanische Bischofskonferenz. Dort ging es um diese Fragen. Es waren vor allem einige sehr engagierte Bischöfe, die die Diskussion anstießen, unter ihnen Helder Camara von Recife in Brasilien, Kardinal Evaristo Arns von Sao Paulo, Leonidas Proaño aus Ecuador. Sie wurden inspiriert von Theologen wie Jan Sobrino und vor allem dem Dominikaner Gustavo Gutiérrez aus Peru. Er veröffentlichte 1971 ein Buch mit dem Titel „Theologie der Befreiung“ und gab damit der Bewegung den Namen.
Vorbild 68er-Bewegung
Inspiriert wurden sie auch von der 68er-Bewegung in Europa und der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung in den USA und weltweit. Die Forderung der „Theologen der Befreiung“ war: Wir, das heißt die Kirche, darf sich nicht damit begnügen, den Opfern des Unrechts zu helfen; wir müssen die Strukturen verändern, gegen das Unrecht angehen, die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.
Es war nicht einfach, alle Teilnehmer der Konferenz zu überzeugen. Die meisten Bischöfe stammten aus wohlhabenden Verhältnissen. Diesem Umstand verdankten sie ihre gute Ausbildung. Die Klöster waren oft selber ziemlich reich und lebten einen gehobenen Lebensstil fern von den Menschen im Slum und in den verarmten Dörfern. Manche Schwesterorden unterhielten Privatschulen für die Oberschicht. Damit waren sie weit weg von den Nöten und Sorgen der Slumbevölkerung. Vielen ähnelten diese Forderungen zu sehr denen der politischen Linken und der kommunistischen Parteien.
Doch in Medellin kamen die Themen der Theologie der Befreiung zur Geltung. Nicht dass diese ganz neu gewesen wären, denn sie ergeben sich aus der Meditation über die Heilige Schrift, vor allem des Evangeliums.
Option für die Armen
Ein Blick ins Evangelium zeigt: Jesus war arm. Das beginnt schon bei den Umständen seiner Geburt in einem Stall und zieht sich als Konstante durch sein ganzes Leben. In Lukas 4,16 ff., einem Schlüsseltext der Befreiungstheologie, sagt Jesus: Ich bin gesandt, den Armen eine frohe Botschaft zu bringen, Niedergeschlagene aufzurichten, Blinden die Augen zu öffnen, Gefangene, das heißt solche, die in Zwängen leben, zu befreien. … Daraus folgt für die Befreiungstheologie die „Option für die Armen“, das heißt, dass die Armen in der Kirche eine Vorrangstellung haben sollen.
Strukturen die Sünde
Gemeint ist: Es gibt nicht nur das individuelle Fehlverhalten, die individuelle Sünde. Es gibt auch „Strukturen der Sünde“, sagen die Theologen der Befreiung und meinen damit vor allem eine Wirtschaftsordnung und Politik, die solches Elend schafft und fördert. Das ist vielleicht der umstrittenste Punkt dieser Theologie, denn sie fordert politische Konsequenzen und hinterfragt die westliche neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Gegner der Theologie der Befreiung kommen deshalb auch schnell mit dem Vorwurf der Unterstützung des Kommunismus und mit dem Argument, dass die Kirche sich aus der Politik heraushalten solle.
Kirchliche Basisgemeinden
Innerkirchlich förderte die Theologie der Befreiung die Kleinen Christlichen Gemeinschaften als Ergänzung großer Pfarreien. Sie versucht, die Menschen zu befähigen, in kleinen, überschaubaren Gruppen in Privathäusern oder Hinterhöfen sich mit der Bibel zu beschäftigen, darin zu lesen, darüber zu sprechen und im Licht der Heiligen Schrift zu überlegen, wie sie sich gegenseitig helfen und so ihre Situation meisten können. Aufgabe der Pfarrer und anderer hauptamtlicher Frauen und Männer ist, die Menschen dazu zu befähigen und zu ermutigen.
Auch die Comboni-Missionare
Die Tätigkeit der Comboni-Missionare wurde davon sehr geprägt, auch in Afrika. Erinnert sei nur an die große Pfarrei in Kariobangi in Nairobi, Kenia, von der schon öfters in kontinente berichtet wurde. In Afrika werden sie „Small Christian Communities“ (scc) „Kleine Christliche Gemeinschaften“ genannt. Stark geprägt wurde davon auch die Seelsorge und der Einsatz für die „Landlosen“ in Brasilien, hier vor allem in Balsas in der Provinz Maranao. Der junge italienische Missionar Pater Ezechiele Ramin bezahlte sein Engagement für vertriebene Kleinbauern 1985 mit dem Leben.
Was ist daraus geworden?
Sicher haben sich, ebenso wie beim Konzil, manche Erwartungen nicht erfüllt, aber der Einfluss dieser theologischen Bewegung ist nachhaltig, und das nicht nur in Lateinamerika. Sie förderte den direkten Zugang zur Heiligen Schrift und stärkte die Rolle der Frau und überhaupt der Laien in der Kirche. Manche der politischen „Linken“, Gewerkschaftler und sozial engagierte Menschen fanden einen Zugang zur Kirche und sehen sie an ihrer Seite. Umgekehrt haben sich manche konservative Kreise der Kirche entfremdet. Aber so ging es auch Jesus. Seine Nähe zu den Armen und Ausgegrenzten entfremdete ihn den politisch und religiös einflussreichen Gruppen seiner Zeit.
Einer unter vielen, denen es ähnlich ergangen ist, war Bischof Oscar Arnulfo Romero aus San Salvador in Mittelamerika. Er wurde 1980 am Altar ermordet. Am 14. Oktober 2018 wird er in Rom heilig gesprochen.
P. Reinhold Baumann