Pater Gregor Schmidt ist im Südsudan vor allem im Bildungs- und Schulwesen tätig. Hier schildert er den mühsamen, aber hoffnungsvollen Weg von der Steinzeit in die Moderne:

Südsudan hat eine Analphabeten-Quote von etwa 75 Prozent. Auf dem Land, wo immer noch die große Mehrheit der Bevölkerung lebt, ist es noch schlimmer. In der Region meiner Pfarrei beim Volk der Nuer sind es über 95 Prozent, die nicht lesen können. In der Sprache der Nuer gibt es kein Wort für „Bildung“, nur eins für „Weisheit“. Um von „Schulbildung“ zu sprechen, verwenden die Nuer das Wort „Schreiben“. Die Schule heißt übersetzt „Haus des Schreibens“.

Ein Leben als Analphabet
Ich vermute, dass Menschen aus gebildeten Ländern sich ein Leben ohne formale Schulbildung als schrecklich oder zumindest als verarmt vorstellen. Es ist jedoch zunächst einmal nur ein anderes Leben, kein schlechteres. Denn wenn es zwar stimmt, dass Analphabeten in einer gebildeten Gesellschaft nur begrenzt am sozialen Leben teilnehmen können, so fällt es ja in einer Umgebung mit oraler Tradition gar nicht auf, wenn fast niemand lesen und schreiben kann. Es gibt daher keine Ausgrenzung vom sozialen Leben. Es wird erzählt, gesungen, getanzt, gefeiert, geheiratet, geboren, gebaut, gejagt, gefischt, gesät, geerntet, usw. Schulbildung ist mit einem außerirdischen Raumschiff zu vergleichen, das vor Kurzem gelandet ist. Die Leute betrachten es mit Neugier, aber auch mit Misstrauen, denn es fordert, dass die jüngeren Familienmitglieder für einen erheblichen Teil des Tages (und des Jahres) nicht im „Familienbetrieb“ anwesend sind. Dies wirbelt die traditionell etablierte Arbeitsteilung in der Familie durcheinander. Daher gehen nur etwa 15 Prozent der Kinder im Schulalter regelmäßig zum Unterricht.

Alle helfen mit, auch die Schüler. Hier beim Transport von Material für die Schule.

In einer „Oase des Friedens“
In den letzten Jahren sind jedoch Schulen wie Pilzköpfe nach einem Sommerregen aus dem Boden gewachsen. Im Jahr 2000 gab es nur drei Grundschulen in Fangak County bei einer Bevölkerung von etwa 120000. Im Jahr 2010 waren es schon 27 Schulen, wobei die meisten nur bis zur 4. Klasse unterrichteten. Dieses Jahr, 2018, melden über 80 Dörfer, dass sie eine Schule eröffnet haben. Das große Interesse an Bildung kam mit dem aktuellen Bürgerkrieg. Wir leben im Oppositionsgebiet und sind außerdem geographisch isoliert vor allem durch das Sumpfgebiet des Nil. Darum gibt es auch keine Zugangsstraße. Dies verhindert, dass die Regierungstruppen unsere Region angreifen können. Das hat seit 2014 über 100000 interne Flüchtlinge der Opposition zu uns geführt. Wir leben in einer „Oase des Friedens“ in einem Konflikt, der über ein Drittel der südsudanesischen Bevölkerung heimatlos gemacht hat. Es ist auch eine Oase der Schulen, weil relativ verlässlich das Schuljahr geplant und unterrichtet werden kann (von Hunger und Hochwasser einmal abgesehen).

Binnenflüchtlinge
Die Flüchtlinge haben in der Regel etwas mehr Schulbildung als die lokale Bevölkerung und daher den Vorzug, wenn Hilfsorganisationen lokales Personal einstellen. Über zehn humanitäre Organisationen wie das Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen sind nach Fangak County gekommen und bieten hunderte Jobs an. Als Basisgehalt gibt es in der Regel 300 US-Dollar. Das macht einen riesigen Unterschied für Familien, die vorher fast nur in Naturalien gehandelt haben. Plötzlich will jede Familie mindestens einen Verwandten mit Schulbildung, der das Geld für die Sippe anschafft. Daher hat sich die Zahl der Dorfschulen in den letzten vier Jahren etwa verdoppelt. Und es kann jeder jeden Alters zur Schule.
Wenn ich von „Schulen“ schreibe, bedeutet das nicht, dass tatsächlich Lerninhalte vermittelt werden. Denn es gab bis vor kurzem keine ausgebildeten Lehrer. Ein „Lehrer“ kann jeder – hier in der Regel ein Mann – sein, der von sich behauptet (!), Englisch lesen zu können. Lehrer schreiben vom Buch an die Tafel ab, und die Schüler kopieren von der Tafel ins Heft. Es gibt selten eine Erklärung für Schüler, was sie da abschreiben. Dies hat zur Folge, dass Schüler Analphabeten bleiben, obwohl sie täglich den Unterricht besuchen, und auch nach Jahren keinen korrekten Satz auf Englisch sagen können. Englisch wird nirgendwo außerhalb des Unterrichtes benutzt.

Archaisches Weltbild
Die Menschen haben in der Regel ein vorwissenschaftliches Weltbild und sind zum Beispiel davon überzeugt, dass einige Menschen sich nachts in Tiere verwandeln und dass Parasiten-Krankheiten durch soziales Fehlverhalten (Tabubruch) verursacht werden. Die Kugelgestalt der Erde wird mit Skepsis betrachtet. Maße und Einheiten wie Meter, Kilometer, Minuten, Stunden, Kilogramm oder Celsius sind unbekannt oder haben keine Bedeutung im Alltag, so dass es unheimlich schwer ist, ein westliches Schulsystem mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung im Südsudan zu etablieren.
Ein weiterer Grund, warum das Schulsystem versagt, ist die Tatsache, dass Lehrer in diesem Land entweder sehr verspätet oder gar nicht bezahlt werden. Daher sind sie oft nicht anwesend und selten motiviert.

Bis zur achten Klasse
Was kann in so einer Situation getan werden? Wir Comboni-Missionare helfen auf zwei Ebenen und haben damit sichtbaren Erfolg. Bis 2014 hatte die Grundschule in Old Fangak keine 8. Klasse. Mit Beginn des Bürgerkrieges kamen plötzlich Achtklässler als Flüchtlinge aus anderen Regionen des Südsudan. Uns Comboni-Missionaren wurde von der Lokalverwaltung die Verantwortung für die 8. Klasse übertragen. Wir versuchten halbwegs geeignetes Lehrpersonal zu finden. Jeder Schüler des Countys wechselt seitdem nach der 6. Klasse auf unsere Schule. 2016 und 2017 haben alle Schüler das Examen bestanden. 2016 waren wir sogar die beste Schule von Jonglei State. Seit 2016 haben wir auch endlich Männer gefunden und als Lehrer eingestellt, die den Unterrichtsstoff beherrschen. Wir haben Unterrichtsmaterialien für jedes Schulfach entworfen und für jeden Schüler in ausreichender Zahl gedruckt. Es gibt vermutlich in ganz Südsudan keine 8. Klasse, die so kompetent und persönlich auf das Examen vorbereitet wird. Die Lehrer halten sich an den Stundenplan und verlassen den Klassenraum während des Unterrichts nicht (funktioniert in keiner anderen Schule des Countys), und es fällt keine Stunde aus, weil wir pro Klasse zwei Lehrer angestellt haben. Falls einer krank ist, gibt es immer den Vertretungslehrer.

Die Zahl der Dorfschulen hat sich in den letzten vier Jahren etwa verdoppelt.

Erster Fortschritt: Schulbank
Es ist eine Lern- und Arbeitserfahrung, dass es einen Raum mit Bänken und Tischen gibt und dass streng von 8:20 bis 15 Uhr Unterricht stattfindet (mit Mittagessen). So etwas haben Schüler hier noch nie erlebt und Lehrer noch nie gemacht. Damit die Lehrer tatsächlich jeden Schultag zur Arbeit kommen, bekommen sie ein Gehalt, welches hoch genug ist, um ihre Familien zu versorgen. Gewöhnlich sitzen Schüler in anderen Schulen unter einem Baum und warten, ohne zu wissen, wann der nächste Lehrer kommt und was er unterrichten wird. Ein Begrüßungslied beginnt folgendermaßen: „We are happy to see our teacher today…” In fast keiner anderen Schule gibt es Tische oder Bänke. Schüler bringen gewöhnlich ihre eigene Sitzunterlage mit, zum Beispsiel eine leere Dose oder einen Rinderschädel, und schreiben auf dem Knie.

Ein Gefühl von Stolz und Freude
Ein weiterer Bereich, in dem die Comboni-Missionare aktiv sind, ist das Lehrertraining. Es gibt ein katholisches Ordensnetzwerk im Südsudan, das ein akkreditiertes Lehrer-College betreibt. Für arbeitende Lehrer gibt es ein Ferienprogramm mit dem gleichen Abschluss. Dieses Jahr im März haben 44 Lehrer (davon vier Frauen) ihre College-Ausbildung mit einem Zertifikat der Regierung abgeschlossen. Zum ersten Mal gibt es echte Lehrer im County. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl von Stolz und Freude.
Die Prüfung war kurz vor Ostern, so war die Graduierungsfeier mit der Verheißung der Auferstehung verbunden. Dies hat eine tiefe Bedeutung für die Menschen hier. Sie erleben Gott als den, der sich ihrer Nichtigkeit erbarmt.
Ich bin sehr froh, als Comboni-Missionar meinen Beitrag zu leisten. Weil es bis vor einigen Jahren keine funktionierende Schule im County gegeben hat, markieren die kleinen Erfolge nicht nur einen deutlichen Unterschied zu vorher. Sie hinterlassen auch einen bleibenden Effekt für die Zukunft. Jede Person, die den Abschluss schafft, hat einen erweiterten Horizont und wird einen Beitrag zur Entwicklung dieses Landes leisten. Ein Grundschulabschluss hat für die Menschen hier mehr Wert als ein Universitätsabschluss in Deutschland. Auch wenn die Motive für den Abschluss eher finanzieller Natur sind, wird es die Gesellschaft doch langsam aber stetig verändern. Es wird aber noch eine Generation dauern, bis es als normal angesehen wird, dass alle Kinder zur Schule gehen sollen. Es wird leider auch noch lange dauern, bis es selbstverständlich für Mädchen geworden ist, die Schule zu beenden.

Lehrerinnen sind Vorbild
UNICEF hat veröffentlicht, dass es für Mädchen im Südsudan drei Mal wahrscheinlicher ist, schwanger zu werden und an den Komplikationen der Geburt zu sterben, als die Schule zu beenden. Die vier Lehrerinnen, die im März den Collegeabschluss erhalten haben, erfüllen eine Vorbildfunktion für jedes Mädchen, das sie unterrichten.
Mein Bericht soll die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem funktionierenden Bildungssystem im Südsudan deutlich machen. Er soll aber auch zeigen, dass nicht alles in diesem Land hoffnungslos ist. Es gibt einen Aufbruch, der nicht zu stoppen ist, auch nicht durch den aktuellen Krieg.